Heinz Angehrn

«woke» als Grundhaltung

(Dies ist ein Versuch sprachlich und emotional zu vermitteln, um ein eigentlich sehr wichtiges Anliegen für uns alle fruchtbar zu machen. Wenn Minderheiten sich gegeneinander auszuspielen beginnen, dann gewinnen immer die Vertreter der Macht, all die Putins und Trumps!
Zudem: Es darf nicht sein, dass dieses Anliegen gar zum Wahlkampfthema und Kampfmittel wird, wie es jetzt gerade in unserem Land die SVP versucht. Darum korrigieren wir auch keine Kinderbücher und Klassiker, sondern lassen sie als die literarischen Zeugnisse stehen, die sie sind!)

Wenn ich das sprachlich zunächst korrekt verstehe, ist der bewusste Terminus die Imperfekt-Form von «to wake», ergo aufwachen, erwachen, auch wecken: «ich wachte auf», «du wachtest auf» etc.; emotional-geistig gemeint, in unserem Kontext wohl nicht «ich erwachte» (vom Schlummer, von der Siesta oder so).

Das Net informiert, dass der Begriff ab den 30er Jahren zunächst in afroamerikanischen Kreisen für ein Aufmerksam-Werden bzw. ein Aufmerksam-Sein für mangelnde soziale Gerechtigkeit steht. So entstand damals ein neuer Terminus, aber dieser gehört mit den Jahrzehnten/Jahrhunderten natürlich nicht nur den ursprünglichen Erfindern, denn dann bliebe er ein blosses Wortspiel (L.Wittgenstein) innerhalb einer geschlossenen sozialen Gruppe und wäre für alle anderen irrelevant. Auch als Kampfbegriff taugte er nicht, er würde so nur die Interessen einer Gruppe schützen. Vielmehr muss er, damit er allgemein logisch wie ethisch angewendet werden kann, im umfassenden Sinn verstanden werden. So ist es möglich, dass verschiedene Gruppen über trennende Gräben hinaus miteinander ins Gespräch kommen können.

Ich weite darum aus und folgere: Zu unseren geistigen Anstrengungen sollte es gehören, dass wir aufmerksam werden für jeglichen Rassismus, für jegliche Diskriminierung, für jegliche strukturelle Ungerechtigkeit. Seit Matthew Fox OP hat sich da der hebräische Terminus «anawim» für alle gesellschaftlichen Gruppen eingebürgert, die marginalisiert, die diskriminiert, die ihrer Bürger/innen-Rechte beraubt und damit an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Fox argumentierte damals biblisch, einmal mit dem Rettergott JHWH, der das als Minderheit existierende Sklavenvolk in die Freiheit führte, und dann mit dem apokalpytischen Wanderprediger aus Nazareth, der alle an den Rand Gedrängten selig pries.
Diese Sicht war ein theologischer (Fort)Schritt und auch eine Befreiung aus dem engen, von Augustinus her geprägten Sündenfall/Erlösungs-Denken.

Wenn wir darum den Terminus als ethische Grundhaltung verwenden, meint er ergo Aufmerksamkeit für alle «anawim»:
– zuallererst die Kinder Israels, das immer noch kleine Volk der Juden
– andere religiöse Minderheiten und Splittergruppen
– Gruppen, die aufgrund Hautfarbe und Ethnie Minderheiten in ihren Gesellschaften sind
– Fahrende und ähnlich Lebende, die den Mainstream-Lebensstil nicht annehmen
– alle sexuellen Minderheiten
… nach Belieben fortzusetzen …
(aber natürlich immer nur, wenn diese Gruppen den demokratischen Rechtsstaat und seine Regeln akzeptieren!)

Zwischenruf: Es wäre inakzeptabel und unerträglich, wenn einige Minderheiten den Terminus nur für sich beanspruchen und seine Verwendung anderen abzusprechen versuchen. (Wittgenstein lässt dann wieder grüssen: absolute Wahrheit, aber nur in der eigenen Sekte!) Noch inakzeptabler ist es m.E., dies gerade dem Judentum als Opfer des grössten Verbrechens der Menschheitsgeschichte, der Schoah, gegenüber zu tun (und dann noch oft von mehrheitlich linken Vertretern/innen des Establishments).

Conclusio:
«woke»-Sein: Wir sind aufmerksam, sehen, hören, lesen und lernen so, wie Ausgrenzung, wie Diskriminierung geschieht. Wir geben Menschen ihre Würde zurück, wir stellen die entstellte Schöpfungsordnung (»alles war gut») ein klein bisschen wieder her. Wir beteiligen uns am Wachsen des «Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit». Wir stehen mit in der langen Reihe der prophetischen Tradition unserer Heiligen Schrift.
Das heisst auch: Wir freuen uns auch für andere Minderheiten, nicht nur für uns, wenn Fortschritte gelingen. Wir engagieren uns sogar für die, mit denen uns wenig verbindet. Denn wir wissen, was geschieht, wenn wir nicht «wachsam» sind: Ideologien wie etwa der Nationalsozialismus, der slawische Überlegenheitswahn, das evangelikale Aburteilen, der gewalttätige Islamismus und eben auch das faschistoide Denken à la AfD, FPÖ und Genossen/innen, sie sind nicht tot.

Letzter Zwischenruf: Alles Gesagte gilt insbesondere für die christlichen Kirchen, die sich ja in der Nachfolge Jesu und damit auch der ganzen biblischen Tradition sehen. Für unsere katholische Kirche gilt wohl: «woke» sein im Quadrat, in höchster Aufmerksamkeit.

Bildquellen

  • : pixabay.com
1. März 2023 | 06:00
von Heinz Angehrn
Lesezeit: ca. 3 Min.
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7 Gedanken zu „“woke” als Grundhaltung

  • Hansjörg sagt:

    Mit den Ausführungen von Heinz Angehrn bin ich voll einverstanden. Insbesondere mit dem letzten Satz zur kath. Kirche.
    Es ist schlicht lachhaft, wenn die SVP in, Person von Frau Friedli, ein Sternchen innerhalb eines Textes zum wichtigsten Wahlkampfthema ausruft.
    Es ist aber auch völlig offensichtlich, dass innerhalb der kath. Kirche keine Gleichberechtigung und keine Geleichwertigkeit vorhanden ist.

  • stadler karl sagt:

    Wir sehen den Stellenwert, welche die Kategorie der Identität in der zeitgenössischen politischen Öffentlichkeit erhalten hat. Wir sehen aber auch die Abirrungen, in welche manche Strömungen im Zusammenhang mit eben dieser Identitätspolitik verfallen und “aussenstehenden Gruppen” normativ für ihr kulturelles und gesellschaftliches Verhalten Gebote und Verbote auferlegen wollen, über die sich sehr wohl streiten lässt. Persönliche und kulturelle Identität, auf der einen Seite zentrale soziale Werte, auf der andern Seite Keime für gesellschaftliche Spaltungen, Ausgrenzung und Hass. Und wir debattieren über den Begriff “Wokeness”, der im Grunde ein dringendes gesellschaftliches Erfordernis beinhaltet, ein Erfordernis, das auch in herkömmlichen liberalen Denkungsarten genauso verwurzelt ist und immer war, nämlich die Würde des Menschen zu schützen und sich gegen Herabwürdigungen zur Wehr zu setzen. Aber unbestreitbar zeitigen die Auslegungen genau dieses Begriffs auch gesellschaftlich-politische Phänomene wie “Cancel Culture” und “politische Korrektheit”, die geeignet sind, zentrale menschliche Freiheiten zu beschneiden und Menschen durch Meinungs- und Sprechverbote in ihrer Entfaltung einzugrenzen.
    Und wer gehört denn nicht unter irgendeinem Aspekt einer Minderheit an? Das Problem des mangelnden gegenseitigen Respekts betrifft keineswegs nur die Trumps oder etwa die SVP etc. Es betrifft uns alle, unbesehen, in welcher politischen Ecke wir verwurzelt sind, unbesehen in welchem gesellschaftlich-kulturellen Segment wir uns tummeln. Wer verspürt nicht manchmal innerliche Reflexe, die gewiss als ausschliessend, im Urteil herabmindernd oder rassistisch gewertet werden können. Eine stoische Selbstprüfung würde da, zumindest soweit es den Schreibenden betrifft, vieles an die Oberfläche bringen.

    Innerhalb der Kirche betrifft es keineswegs nur die Konservativen. Wer unbekümmert und apodiktisch Leute, die seit ihrer Kindheit und Jugend mit Wertvorstellungen indoktriniert wurden, dergestalt, dass sie in ihrem Sozialisationsprozess diese Werte verinnerlicht haben und sich nur schwer von ihnen zu lösen vermögen, als rückwärtsgewandt, ewig Gestrige, des kritischen Denkens unfähig und mit weiteren herabmindernden Prädikaten bezeichnet, wie dies in der innerkirchlichen Debatte immer wieder zu beobachten ist, erweckt nicht eher den Anschein von Toleranz als manche Konservativen, die ihren Kontrahenten ein tragendes Wahrheitsverständnis absprechen. Die Theologinnen und Theologen werden gewiss nicht zustimmen. Aber es will einem scheinen, dass der Keim für solche feindseligen Positionen auch teilweise bereits in zentralen biblischen Stellen des zweiten Testaments schlummert.

    • Hansjörg sagt:

      Es ist wohl etwas gar einfach, Konservative in Schutz zu nehmen, weil sie in Ihrer Jugend indoktriniert wurden. Es war ja damals schon völlig unverständlich, dass Jugendliche im Primarschulalter zum 5. Gebot zur Achtung vor dem Leben, beichten mussten.
      Die jungen Primarschülerinnen und Schüler mussten auch zum 6. Gebot beichten und ihre Keuschheit öffentlich bestätigen. Ich glaube auch konservative Kreise können im Verlauf ihres Lebens etwas dazu lernen. Heute sehen wohl rund 90% der jungen Katholikinnen und Katholiken die Sexuallehre als fehl am Platz, oder es interessiert die jungen Leute schlichtweg nicht, was die offizielle kath. Kirche verbreitet.

      • stadler karl sagt:

        Dass man als Schülerin oder Schüler vor fünfzig sechzig Jahren hätte öffentlich beichten oder “seine Keuschheit öffentlich bestätigen müssen”, wäre mir, dies selbst bezogen auf erzkonservative Gefilde, völlig neu. Man sollte nicht irgendein schräges Ereignis pauschalisierend als “Allgemeinzustand” herbeireden. Und es wäre mir als Jugendlicher im übrigen damals auch nicht aufgefallen, dass man sich vor konservativ denkenden Seelsorgern bezüglich Übergriffen irgendwelcher Art hätte mehr in Acht nehmen müssen als auch etwa bei légèren, aufgeschlossenen Pädagogen.
        Es geht keineswegs darum, die Konservativen in Schutz zu nehmen. Aber es scheint bezeichnend, dass wenn auch manche apodiktischen Ausfälle der liberal-progressiven Seite ein wenig hinterfragt werden, dies auf diesem Forum postwendend gerügt wird.
        “Etwas gar einfach” erscheint es, wenn jetzt nach einer Reform der kirchlichen Sexualmoral gerufen wird, wie dies erneut in einem kürzlichen Beitrag auf kath.ch von Kardinal Marx getan wird. Die Kirche, ob in offizieller oder in synodaler Version, glaubt offenbar, sie dürfe die Menschen über Jahrtausende mit normativen “Wahrheiten” belehren, ja, solange kirchlicher Einfluss gesellschaftlich noch Bestand hatte, teilweise gar bedrängen, und kaum ändert sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten das gesellschaftspolitische Umfeld und dessen – nicht von der Kirche initiierten – Wertvorstellungen, wird nach einer Anpassungsreform der kirchlichen Sexualmoral gerufen. Als ob die Verantwortung dieser Institution für früheres Gebaren damit gewahrt bliebe und es damit ein Bewenden habe. Gleichzeitig fährt man in der innerkirchlichen Debatte über jene her, welche diesen Schritt zu machen und von ihren Überzeugungen sich zu lösen noch nicht bereit sind.
        Ich stimme Ihnen zu, dass heute wohl 90% der jungen, übrigens auch vieler älterer Menschen, sich um die Katechismus-Sexualmoral der Kirche einen alten Hut kümmern. Aber sie kümmern sich nicht nur um die derzeit noch geltende offizielle Sexualmoral der Kirche nicht, sondern überhaupt nicht, was die Kirche dereinst, der synodale Weg miteingeschlossen, zu diesem Thema zu sagen hat! Im westeuropäischen Kulturkreis hat sich mittlerweile über weiteste Strecken die Einsicht breit gemacht, dass die Kirche im Bereich von Moral und Ethik sich besser heraushalten sollte, ja dass sie nicht mehr der “normativ- gesellschaftliche Kitt” darstellt und ihr auch nicht mehr wie früher eine tragende Orientierungsfunktion zukommt, wie es manche Politiker und Politikerinnen bei manchen Anlässen immer noch wahrhaben wollen.

        • Hansjörg sagt:

          Für einen Primarschüler fühlt es sich öffentlich an, wenn er in der grossen Kirche, im dunklen Kämmerlein des Beichtstuhls, einem alten Mann hinter vergittertem Fensterlein seine vermeintlichen Sünden offen legen muss.

          • stadler karl sagt:

            Vielleicht hab en Sie diesbezüglich andere Erfahrungen machen müssen. Bei uns gab es damals, wenn ich mich richtig erinnere, ende der fünfziger, anfangs der sechziger Jahre, in der Primarschule ab und zu das Schulbeichten. D.h., man ging klassenweise in die Kirche und jeder Schüler ging dann zur Beichte. Mir ist lediglich ein Vorkommnis in Erinnerung geblieben, als ich zusammen mit drei Kameraden durch die beaufsichtigende Lehrperson aus der Kirche verwiesen wurde, weil wir, anstatt das “Gewissen zu erforschen”, Unsinn trieben und wahrscheinlich schon ziemlich störten. Auch andern war es ab und zu ähnlich ergangen. An niedergedrückte Stimmung und Reumütigkeit vermöchte ich mich in dieser Altersstufe nicht zu erinnern. Als dann die Pubertät eintrat, erotische Wünsche einen in Beschlag zu nehmen begannen, war es bereits damals, also lange vor der 68er-Wende, mit dem Beichten schnell vorbei. Aber der Geist, den damals die Kirche in der allgemeinen Gesellschaft hinsichtlich gewisser Belange, wie gerade auch bzgl. der Sexualmoral, verbreitete und der aufgrund ihres damals noch halbwegs bestehenden Einflusses gewiss Wirkung zeitigte, vermochte einem, gerade auch als Pubertierender, sehr wohl grosse Hindernisse in den Weg zu legen. Beispielsweise das authentische Bekunden von Hingezogenheit und Sympathie gegenüber einem gleichgeschlechtlichen Jugendlichen konnte dadurch sehr erschwert, zumeist verhindernd und von niederdrückenden Angstgefühlen begleitet sein.

  • “sexuellen Minderheiten”.. Sich durch seine Sexualität identifizieren hat nichts mit Gerechtigkeit, Glauben oder Gott zu tun. Wohl ist das ausleben so mancher sexueller Neigungen gar eine Sünde. Und versteht mich nicht falsch, wir alle sind Sünder. Vor allen ich, und ich bin der letzte der diesbezüglich einen Stein werfen will. Nur sich seine Identität aus der Sexualität herzuleiten kann halt doch nicht zum heil führen..doch ganz im Gegenteil.
    Und wenn wir von woke Sprechen, wieso wird nicht einmal deren Rassismus gegen Europäer, oder “Weisse”, angesprochen? Dieser ist im “woken” Milieu allgegenwertig und führt doch auch nur wieder zu gegenseitigem Abneigung oder gar Hass.

    Oberflächlich mögen viele Punkte des “woken” gut klingen, und viele die sich woke nennen werden es auch gut meinen. Aber tiefer hingeschaut stimmt vieles in diesem “woken” so ganz und gar nicht.

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