«woke» als Grundhaltung

(Dies ist ein Versuch sprachlich und emotional zu vermitteln, um ein eigentlich sehr wichtiges Anliegen für uns alle fruchtbar zu machen. Wenn Minderheiten sich gegeneinander auszuspielen beginnen, dann gewinnen immer die Vertreter der Macht, all die Putins und Trumps!
Zudem: Es darf nicht sein, dass dieses Anliegen gar zum Wahlkampfthema und Kampfmittel wird, wie es jetzt gerade in unserem Land die SVP versucht. Darum korrigieren wir auch keine Kinderbücher und Klassiker, sondern lassen sie als die literarischen Zeugnisse stehen, die sie sind!)

Wenn ich das sprachlich zunächst korrekt verstehe, ist der bewusste Terminus die Imperfekt-Form von «to wake», ergo aufwachen, erwachen, auch wecken: «ich wachte auf», «du wachtest auf» etc.; emotional-geistig gemeint, in unserem Kontext wohl nicht «ich erwachte» (vom Schlummer, von der Siesta oder so).

Das Net informiert, dass der Begriff ab den 30er Jahren zunächst in afroamerikanischen Kreisen für ein Aufmerksam-Werden bzw. ein Aufmerksam-Sein für mangelnde soziale Gerechtigkeit steht. So entstand damals ein neuer Terminus, aber dieser gehört mit den Jahrzehnten/Jahrhunderten natürlich nicht nur den ursprünglichen Erfindern, denn dann bliebe er ein blosses Wortspiel (L.Wittgenstein) innerhalb einer geschlossenen sozialen Gruppe und wäre für alle anderen irrelevant. Auch als Kampfbegriff taugte er nicht, er würde so nur die Interessen einer Gruppe schützen. Vielmehr muss er, damit er allgemein logisch wie ethisch angewendet werden kann, im umfassenden Sinn verstanden werden. So ist es möglich, dass verschiedene Gruppen über trennende Gräben hinaus miteinander ins Gespräch kommen können.

Ich weite darum aus und folgere: Zu unseren geistigen Anstrengungen sollte es gehören, dass wir aufmerksam werden für jeglichen Rassismus, für jegliche Diskriminierung, für jegliche strukturelle Ungerechtigkeit. Seit Matthew Fox OP hat sich da der hebräische Terminus «anawim» für alle gesellschaftlichen Gruppen eingebürgert, die marginalisiert, die diskriminiert, die ihrer Bürger/innen-Rechte beraubt und damit an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Fox argumentierte damals biblisch, einmal mit dem Rettergott JHWH, der das als Minderheit existierende Sklavenvolk in die Freiheit führte, und dann mit dem apokalpytischen Wanderprediger aus Nazareth, der alle an den Rand Gedrängten selig pries.
Diese Sicht war ein theologischer (Fort)Schritt und auch eine Befreiung aus dem engen, von Augustinus her geprägten Sündenfall/Erlösungs-Denken.

Wenn wir darum den Terminus als ethische Grundhaltung verwenden, meint er ergo Aufmerksamkeit für alle «anawim»:
– zuallererst die Kinder Israels, das immer noch kleine Volk der Juden
– andere religiöse Minderheiten und Splittergruppen
– Gruppen, die aufgrund Hautfarbe und Ethnie Minderheiten in ihren Gesellschaften sind
– Fahrende und ähnlich Lebende, die den Mainstream-Lebensstil nicht annehmen
– alle sexuellen Minderheiten
… nach Belieben fortzusetzen …
(aber natürlich immer nur, wenn diese Gruppen den demokratischen Rechtsstaat und seine Regeln akzeptieren!)

Zwischenruf: Es wäre inakzeptabel und unerträglich, wenn einige Minderheiten den Terminus nur für sich beanspruchen und seine Verwendung anderen abzusprechen versuchen. (Wittgenstein lässt dann wieder grüssen: absolute Wahrheit, aber nur in der eigenen Sekte!) Noch inakzeptabler ist es m.E., dies gerade dem Judentum als Opfer des grössten Verbrechens der Menschheitsgeschichte, der Schoah, gegenüber zu tun (und dann noch oft von mehrheitlich linken Vertretern/innen des Establishments).

Conclusio:
«woke»-Sein: Wir sind aufmerksam, sehen, hören, lesen und lernen so, wie Ausgrenzung, wie Diskriminierung geschieht. Wir geben Menschen ihre Würde zurück, wir stellen die entstellte Schöpfungsordnung (»alles war gut») ein klein bisschen wieder her. Wir beteiligen uns am Wachsen des «Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit». Wir stehen mit in der langen Reihe der prophetischen Tradition unserer Heiligen Schrift.
Das heisst auch: Wir freuen uns auch für andere Minderheiten, nicht nur für uns, wenn Fortschritte gelingen. Wir engagieren uns sogar für die, mit denen uns wenig verbindet. Denn wir wissen, was geschieht, wenn wir nicht «wachsam» sind: Ideologien wie etwa der Nationalsozialismus, der slawische Überlegenheitswahn, das evangelikale Aburteilen, der gewalttätige Islamismus und eben auch das faschistoide Denken à la AfD, FPÖ und Genossen/innen, sie sind nicht tot.

Letzter Zwischenruf: Alles Gesagte gilt insbesondere für die christlichen Kirchen, die sich ja in der Nachfolge Jesu und damit auch der ganzen biblischen Tradition sehen. Für unsere katholische Kirche gilt wohl: «woke» sein im Quadrat, in höchster Aufmerksamkeit.

Heinz Angehrn

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.blogs-kath.ch/woke-sein-sollte-fuer-alles-gelten/