Heinz Angehrn

Toleranz zum Letzten

Habe mir gestern die dringliche Debatte im Deutschen Bundestag zu dem Morden in Hanau angeschaut. Es war zum einen lehrreich zu sehen und zu hören, wie sich die Politiker äusserten, die nicht direkt betroffen sind und deshalb quasi ein «ordentliches» Statement abgaben (so etwa die Fraktionschefs von CDU, SPD und Linkspartei): Sie benutzten ihren Auftritt auch zum Austeilen gegenüber der politischen Konkurrenz. Das ist zwar legitim, war aber fehl am Platz in einer solchen Debatte. Ganz anders die Auftritte der beiden Vertreter von FDP und den Grünen: Die schickten nicht die Chefs, sondern zwei Männer mit Migrationshintergrund und klaren diesen auch aufzeigenden Namen. Und siehe da: Die beiden wurden persönlich und emotional, fielen nicht über die Konkurrenz her, sondern forderten am Rande der Betroffenheit ein gesamtgesellschaftliches Votum für ein «Nie wieder» oder noch schlimmer «Wir wollen in diesem Land keine Angst haben» ein.

Und dann durfte eben auch die Fraktion reden, in der die geistigen Brandstifter der letzten Jahre zuhause sind. Und siehe da: Kein einziges Wort der Betroffenheit, kein einziges Wort der Entschuldigung, sondern es wurde eine leidende Märtyrerrolle eingenommen (»alle gegen uns»), der Spiess flugs umgekehrt und wieder einmal die Schuld der offenen Gesellschaft und insbesondere Frau Merkel als deren Gesicht zugeschoben. Natürlich schickte man dazu auch wieder Herrn Curio ans Mikrofon. Gnadenlos, zynisch, die Tatsachen ins Gegenteil verkehrend, ja der Vergleich mit Goebbels stimmt. Ich verstehe irgendwie darum den Satz «Wir wollen in diesem Land keine Angst haben», denn wenn man Curio hört, hat man als Araber, als Afghane, als Moslem, als Alavit Angst.

Ich beende meine Trilogie mit den ganz praktischen Folgerungen aus den Werken der Herren Kant, Popper und Wittgenstein, heruntergedacht in die Welt von Schweizer Oberstufenschülern/innen, damit nun jede/r versteht, worum es geht:
1. Ich sage nie mehr «xxx ist blöd/schlecht», sondern «Ich meine/empfinde, dass xxx blöd/schlecht ist».
2. Ich sage nie mehr «Alle xxx sind yyy», sondern «Nach meiner persönlichen Meinung sind xxx yyy».
3. Ich messe zudem meine Worte und Urteile am eigenen Verhalten. Genüge denn ich?

Und nun könnt Ihr Eure xxx konkret lassen werden: alle Moslems, alle Biertrinker, alle Christen, alle Gepiercten, alle Tätowierten, alle Schwarzen, alle Priester, alle Juden, alle Fussballfans, alle SVP-Politiker, alle Homosexuellen, alle NZZ-Leser, alle Chasselastrinker, alle Mercedesfahrer, alle Atheisten, alle Linken, alle Offiziere, alle Musikstadlhörer, alle Politiker etc. etc. etc.
(Der Schreibende bekennt, dass er auch schon in die Gefahr kam, so zu argumentieren, denn er trinkt weder Bier noch Epesses, mag weder Volksmusik noch Country, liebt nur die englischen Edelautos, hat mit der Armee und ihren Granden üble Erfahrungen gemacht, liest selber täglich die NZZ und sicher nicht die Weltwoche und ist Mitglied der GLP…)

Und natürlich dieses PS im Nachhinein: Bis zum 6.März 2020 dachte ich, dass auch dieser Satz gilt: Alle Schwinger sind hetero…

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6. März 2020 | 08:28
von Heinz Angehrn
Lesezeit: ca. 2 Min.
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4 Gedanken zu „Toleranz zum Letzten

  • karl stadler sagt:

    Herr Angehrn, ich stimme Ihnen zu. Aber eines der gescheitesten Voten trug gestern Schäuble vor. Ja, man muss keinenswegs ein ausgewiesener Analytiker sein, sondern nur ein wenig die Augen offen halten, um festzustellen, dass teilweise ein vergiftetes Klima in der Gesellschaft herrscht. Und das wird in Deutschland gewiss stark, aber bei weitem nicht allein von der AfD angeheizt.
    Wenn Sie in Ihrem Beitrag schreiben, dass niemand im Lande gedrängt sein sollte, sei es in der CH, Deutschland oder anderswo, Angst haben zu müssen, dann benennen Sie völlig zurecht Migranten oder Flüchtlinge. Sie sind ja überall die Benachteiligten, an den Rand Gedrängten. Aber Sie sollten im gleichen Atemzug insbeondere auch die Juden benennen. Ich denke da keineswegs bloss an Halle, das sich ca. rei Monate vor Hanau ereignete. Zu denken ist vor allem an die mehr oder weniger regelmässigen Vorkommnisse in Kulturstädten wie Berlin etc., wo hasserfüllte antisemitische Veranstaltungen mehr ode weniger an der Tagesordnung sind und alle sich mittlerweile daran “gewöhnt” haben. Da werden Sie bei weitem nicht nur AfD-Mitglieder antreffen, sondernn auch Leute, die sich ihrerseits zu eingewanderten Minderheiten zählen oder die aus andern etablierten Parteien stammen.
    Und wenn bei dieser gestrigen Debatte im Bundestag der Abgeordnete Dietmar Bartsch von der Linke uns gross belehren will, dass, wer “links” und “rechts” gleichsetzt, den Faschismus relativiere – nur schon die Aussage, “links und rechts gleichzusetzen”, was soll man darunter in so generalisierender Weise überhaupt verstehen, an den allermeisten Stammtischen wird um einiges differenzierter diskutiert – dann wäre ihm gleichzeitig nicht schlecht angestanden, gerade im Kontext der gestrigen Debatte auch einmal öffentlich darüber zu reflektieren, was es denn gesellschaftlich bedeuten könnte, wenn namhafte Leute aus der Partei der Linke lauthals, teilweise unter Applaus und ohne dass der Parteivorsitzende intgerveniert hätte, an einem Parteianlass wie vor drei Tagen öffentlich zum Besten geben, dass in der Politik auch noch einiges zu tun bleiben werde, wenn erst einmal das eine Prozent der Reichen erschossen sein wird.

  • karl stadler sagt:

    Und da Sie abschliessend in Ihrer Trilogie immer noch beim Thema Toleranz verweilen, reizt es mich, noch folgendes anzufügen: Ihre drei Maximen am Schluss Ihres Beitrages gefallen mir sehr. Ja, ich meine auch, dass Sie da eine angemessene Conclusio aus dem gesellschaftlichen Denken der zitierten Autoren gezogen haben. Und ich bin überzeugt, dass das Klima in der Gesellschaft, zumindest so will es oftmals scheinen, schärfer, giftiger geworden ist. Aber ebenso zeigt es sich oftmals, dass gesellschaftspolitische Argumentationen aus verschiedensten und teilweise gegensätzlichen Perspektiven viel komplexer sind als prima vista oftmals angenommen und behauptet. Aufgefallen ist mir das wieder einmal im Zuammenhang mit der Abstimmung zur Revision von Art. 261bis StGB vom 9. Februar. Persönlich habe ich dieser Revision zugestimmt. Aber ich würde mich hüten, zu behaupten, dass die Gegner lauter “Schwulenhasser” waren. Ein Argumentationsstrang, dass mit der Tatbestandsausweitung dieser Bestimmung indirekt auch eine Stigmatisierung der Homosexuellen verbunden sein könnte, ja vielleicht zur potentiellen gesellschaftlichen Zementierung solcher Stigmata beizutragen im stande ist, hat vielleicht sehr wohl etwas für sich. Richtig sensibilisiert für diese Argumentation wurde ich erst nachträglich in einem Gespräch mit einer homosexuellen Person, die politisch im SVP-Lager angesiedelt ist und die sich offenbar mit andern schwulen Parteiangehörigen austauschte.
    Mich freut es sehr, dass sich, laut einer Meldung des Tages Anzeigers, kürzlich Curdin Orlik, ein aktueller Spitzenschwinger, geoutet hat. Dass im Schweizer Spitzensport ausgerechtnet aus der Schwingerszene zuerst ein solches Comingout erfolgt, bestätigt einen in der Überzeugung, dass Begrifflichkeiten wie Offenheit, Konservatismus, Toleranz etc. wahrscheinlich in sämtlichen Gesellschafts- und Kulturschichten neu bedacht werden sollten.

  • stadler karl sagt:

    “Beschweigen”!
    Sie setzten ja Ihre ansprechende Trilogie unter das Logo des Regenbogens. Und ich finde das auch gut so. Dennoch erlaube ich mir eine abschliessende, nicht auf Sie bezogene Bermerkung: Nachdem in der vergangenen Zeit auf kath.ch das Thema Homosexualität, gerade auch im Kontext von Diskriminierung, oder als teilweise schierige Lebensform einer Minderheit, immer wieder abgehandelt wurde, teilweise fast zu oft und zu ausgiebig, derart, dass die Leserschaft durch das Thema übersättigt zu werden drohte, fällt es doch auf, dass im heutigen Medienspiegel auf kath.ch das Coming-out in der Schwingerszene, das nun wirklich in der gesamten Presse gebührende Erwähnung findet, nicht mit einem Satz erwähnt wird. Dieses Ereignis, das mehr Inhalt besitzt und in der Gesellschaft mehr Resonanz findet als viele andere Beiträge auf kath.ch, scheint in diesem Medium schlichtweg nicht zu exitieren. Dieser äusserst wertvolle Impus kam wohl aus der falschen gesellschaftlichen Schicht.
    Aber ich habe die Kirche bereits als Jugendlicher vor 50, 60 Jahren nie anders erlebt. Was aus der falschen Ecke kam, wurde entweder verdammt oder man redete nicht darüber. Die Kirche hat es nie begriffen, und sie wird es wahrscheinlich auch nie begreifen!

  • Karl stadler sagt:

    Ich nehme den Kommentar von gestern, 20:52h, zurück. Nachträglich wurde heute ein Beitrag im Tages-Anzeiger von gestern dennoch im Medienspiegel aufgeführt. Ich hsbe mich etwas voreilig aufgeregt. Ich entschuldige mich in aller Form!

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