Toleranz zum Letzten

Habe mir gestern die dringliche Debatte im Deutschen Bundestag zu dem Morden in Hanau angeschaut. Es war zum einen lehrreich zu sehen und zu hören, wie sich die Politiker äusserten, die nicht direkt betroffen sind und deshalb quasi ein «ordentliches» Statement abgaben (so etwa die Fraktionschefs von CDU, SPD und Linkspartei): Sie benutzten ihren Auftritt auch zum Austeilen gegenüber der politischen Konkurrenz. Das ist zwar legitim, war aber fehl am Platz in einer solchen Debatte. Ganz anders die Auftritte der beiden Vertreter von FDP und den Grünen: Die schickten nicht die Chefs, sondern zwei Männer mit Migrationshintergrund und klaren diesen auch aufzeigenden Namen. Und siehe da: Die beiden wurden persönlich und emotional, fielen nicht über die Konkurrenz her, sondern forderten am Rande der Betroffenheit ein gesamtgesellschaftliches Votum für ein «Nie wieder» oder noch schlimmer «Wir wollen in diesem Land keine Angst haben» ein.

Und dann durfte eben auch die Fraktion reden, in der die geistigen Brandstifter der letzten Jahre zuhause sind. Und siehe da: Kein einziges Wort der Betroffenheit, kein einziges Wort der Entschuldigung, sondern es wurde eine leidende Märtyrerrolle eingenommen (»alle gegen uns»), der Spiess flugs umgekehrt und wieder einmal die Schuld der offenen Gesellschaft und insbesondere Frau Merkel als deren Gesicht zugeschoben. Natürlich schickte man dazu auch wieder Herrn Curio ans Mikrofon. Gnadenlos, zynisch, die Tatsachen ins Gegenteil verkehrend, ja der Vergleich mit Goebbels stimmt. Ich verstehe irgendwie darum den Satz «Wir wollen in diesem Land keine Angst haben», denn wenn man Curio hört, hat man als Araber, als Afghane, als Moslem, als Alavit Angst.

Ich beende meine Trilogie mit den ganz praktischen Folgerungen aus den Werken der Herren Kant, Popper und Wittgenstein, heruntergedacht in die Welt von Schweizer Oberstufenschülern/innen, damit nun jede/r versteht, worum es geht:
1. Ich sage nie mehr «xxx ist blöd/schlecht», sondern «Ich meine/empfinde, dass xxx blöd/schlecht ist».
2. Ich sage nie mehr «Alle xxx sind yyy», sondern «Nach meiner persönlichen Meinung sind xxx yyy».
3. Ich messe zudem meine Worte und Urteile am eigenen Verhalten. Genüge denn ich?

Und nun könnt Ihr Eure xxx konkret lassen werden: alle Moslems, alle Biertrinker, alle Christen, alle Gepiercten, alle Tätowierten, alle Schwarzen, alle Priester, alle Juden, alle Fussballfans, alle SVP-Politiker, alle Homosexuellen, alle NZZ-Leser, alle Chasselastrinker, alle Mercedesfahrer, alle Atheisten, alle Linken, alle Offiziere, alle Musikstadlhörer, alle Politiker etc. etc. etc.
(Der Schreibende bekennt, dass er auch schon in die Gefahr kam, so zu argumentieren, denn er trinkt weder Bier noch Epesses, mag weder Volksmusik noch Country, liebt nur die englischen Edelautos, hat mit der Armee und ihren Granden üble Erfahrungen gemacht, liest selber täglich die NZZ und sicher nicht die Weltwoche und ist Mitglied der GLP…)

Und natürlich dieses PS im Nachhinein: Bis zum 6.März 2020 dachte ich, dass auch dieser Satz gilt: Alle Schwinger sind hetero…

Heinz Angehrn

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.blogs-kath.ch/toleranz-zum-letzten/