Heinz Angehrn

Stunde der Wahrheit

Es ist auch wahr: In der momentan aufgeladenen Diskussion um LGBT (oder wie immer wir dies gerade schreiben wollen) geht die Stimme der Vernunft im allgemeinen Geschrei unter. Das ist wirklich schade, und ich möchte das Geschrei heute wieder mal auf die essentielle Fragestellung hinunterfahren.

Diese lautet nämlich: Wie können wir (wir verstanden als: Eltern, Familien, Gesellschaft, Schule, Kirche, Organisationen) jungen Menschen helfen, dass sie die schwierige Phase der Selbstfindung und Selbstwerdung, gerade auch die der körperlich-sexuellen Selbstfindung und Selbstwerdung gut schaffen und bewältigen, ohne Schaden an ihrer Seele und Integrität zu nehmen?

(Anmerkung 1: Ich lese zurzeit Louise Pennys Gamache-Krimis mit Quebec als kulturellem Hintergrund. Gleich im ersten Krimi – «Das Dorf in den roten Wäldern» – wird unsere Frage thematisiert. Unter dem sozialen Druck seiner Kumpels wirft der 14jährige Philippe mit Entendreck gegen das Bistro des schwulen Paares im Dorf und damit gegen sich selbst. Die Reaktion der Bistro-Betreiber: Als Strafe soll Philippe bei ihnen kellnern, einfach um zu erleben, wie normal eine solche Beziehung sein kann. Toleranz versus Ausgrenzung. Anrührend.)

Ich komme nun auf unsere Kirche zu sprechen. Lange Zeit war ich wie viele überzeugt, dass die Frage der Gleichstellung und Gleichberechtigung der Frau der Knackpunkt sein wird in der zentralen Frage, ob die katholische Kirche wirklich in der Neuzeit, die von den Werten der Aufklärung geprägt wurde, ankommen kann oder ob sie – analog den evangelikalen Sekten – für immer im Morast eines katholikal-unaufgeklärten Denkens stecken bleiben wird. Heute denke ich, dass es das Thema der Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen und gleichgeschlechtlicher Liebe ist, an dem sich diese Frage entscheiden wird.

(Anmerkung 2: Aus bibeltheologischer Sicht ist alles klar. Die zeitgebundenen und kulturbedingten «Ausrutscher» in Leviticus sind zu vernachlässigen, wenn wir sie neben die zwei zentralen Aussagen der beiden Testamente zu unserer Frage auf die Waagschale legen. Einmal die Gesamtbeurteilung im ersten Schöpfungsbericht in Gen1f, dass alles, was Gott geschaffen hat, «sehr gut» ist, zum anderen die lapidare Aussage des Paulus in Gal 3,28, dass wir alle in Jesus Christus zum neuen Menschen ungeachtet unserer Differenzierungen geworden sind.)

Die Frage der gleichberechtigten Stellung der Frau in der Institution greift also immer noch zu kurz. Am Ende des Weges sind wir erst angekommen, wenn es eine schöpfungstheologisch begründete Anerkennung aller Spielarten, wie menschliches Leben sich körperlich-sexuell entfaltet, als Grundlage des Denkens, Lehrens und Urteilens in dieser Institution gibt. Solange es in dieser Institution noch geduldet wird, dass salbadernd Termini wie Bedauern und Mitleid verwendet werden, so lange noch geduldet wird, dass ohne jeden Skrupel die Fragestellung auf Pädophilie und Missbrauch umgedeutet wird, so lange geduldet wird, dass gar von «Ungehorsam gegen Gottes Schöpfungsordnung» gesprochen wird, so lange sind wir weder in der Neuzeit und schon gar nicht in einem Vorhof der Reiches Gottes, das in Jesus angebrochen ist, angekommen.

Und deshalb noch einmal und zum Mitschreiben und hinter die Ohren Schreiben (gerade zur heutigen Pride in Zürich): Wie können wir als Kirche, die sich auf Jesus und seine Botschaft vom barmherzigen Schöpfergott beruft, heute jungen Menschen helfen, dass sie die werden können und dürfen, als die sie dieser Schöpfergott geschaffen hat? Oder wollen wir weiter abwerten, diskriminieren und so in die Not von Selbstverleugnung und Suizid-Gedanken treiben?

Wie wird das denn, wenn – Mt 25 – der Weltenrichter einst sagen wird: Ich war schwul/lesbisch und Ihr habt mich abgelehnt …

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  • : pixabay.com
18. Juni 2022 | 06:00
von Heinz Angehrn
Lesezeit: ca. 2 Min.
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3 Gedanken zu „Stunde der Wahrheit

  • stadler karl sagt:

    Nicht weiter abwerten, diskriminieren, wie Sie es am Schluss als rhetorische Frage aufwerfen? Gewiss nicht! Aber ist es wirklich Aufgabe der Kirche, der Religion, explizit an einer Sexualmoral festzuhalten? Ich bin Laie, nicht Theologe. Aber die Bibelstellen, die Sie anführen, helfen die wirklich weiter? Ich glaube nicht, dass Paulus an der Stelle in Gal 3,28 wirklich an die Frage der sexuellen Ausrichtung dachte. Sonst dürfte er die Stelle in Röm 1,26 nicht so formulieren. Auch Origines sieht das in seinem Kommentar, erst gut einhundert Jahre später, ähnlich. Ist das Problem nicht vielmehr auch, dass sich in dieser innerkirchlichen Kontroverse alle auf derartige Bibelstellen berufen, gerade auch auf den Schöpfungsbericht? Das kirchlich-theologische Naturrechtsdenken, wie es z.B. auch Joseph Ratzinger, den ich trotz allem sehr schätze, vertritt, beruft sich doch ebenso auf solche Stellen. Natürlich: Im Verständnis der Theologenschaft ist nicht haltbar, was ich jetzt behaupte. Aber Religion und explizite Sexualmoral vertragen sich nach meiner Meinung im Grunde sehr schlecht, wenn überhaupt. Das will natürlich nicht heissen, dass es im Bereich sexuellen Verhaltens keine Leitplanken geben soll. Es handelt sich bekanntlich bei der Sexualität um eine menschliche Eigenschaft, die einen sehr zentralen und sensiblen Teil des Menschseins betrifft. Aber die Art und Weise, wie ich meine Sexualität lebe, um sie zu meinem und anderer Heil wirken zu lassen oder eben verletztend und schwer schädigend auf die Befindlichkeit anderer Menschen einzuwirken, bemisst sich doch im Grunde nach den genau gleichen ethischen Kriterien, denen auch das gesamte übrige menschliche Verhalten unterliegt. Letztlich geht es doch dabei gerade nicht um Sex als solchen, z.B. um sexuelle Präferenzen oder um geschlechtliche Identität, als vielmehr um Fragen im kantischen Sinn, wie gehe ich mit Menschen um, anerkenne ich sie als Zweck an sich und welche direkten Auswirkungen, auch Drittwirkungen, hat mein Verhalten, vorliegend ganz zufällig im Bereich der Sexualität. Ich wage jetzt einmal zu behaupten, dass es z.B. im Dekalog nirgends um Sex als solchen geht. Wenn ich auf eine Frau stehe, die in einer festen Beziehung lebt, vielleicht verheiratet ist und mit ihrem Partner Kinder aufzieht, ist doch das Hauptproblem nicht, dass ich mich sexuell angezogen fühle, als vielmehr, dass ich eine andere Beziehung gefährde, sodass dadurch auch die Sozialisation und Entwicklung von Kindern in irgendeiner Form in Mitleidenschaft gezogen werden könnten. Die Kirche, die sich über weite Strecken vom Naturrechtsdenken und der göttlichen Planmässigkeit leiten lässt, sieht das natürlich nicht so, sondern lehnt gemäss tradierter Lehre gewisse Formen der Sexualität als solche ab, selbst dann, wenn die Gefahr, Schaden anzurichten, in weiter Ferne liegt. Ich bin der festen Überzeugung, die Kirche sollte ihre Sexualmoral nicht reformieren, sondern sich schlicht daraus heraushalten. Sexualität bleibt, unbesehen dieses Umstandes, dennoch immer eine grosse Herausforderung. Aber man sollte sie der Beurteilung der direkt verantwortlichen Menschen überlassen, die zum allergrössten Teil bemüht sind, ihr Leben nach ethischen Kriterien auszurichten.

  • Michael Bamberger sagt:

    Die abrahamitischen Religionen sind von Männern für Männer erfunden worden, da liegt der monumentale Haken, wie es u.a. in der verkorksten Einstellung zur Sexualität zum Ausdruck kommt.

  • Hansjörg sagt:

    Die Frage, wer zur Zeit von der kath. Kirche mehr diskriminiert wird, die Menschen der LGBTQ Community, oder die Hälfte der Menschheit, nämlich die Frauen, muss nicht als erstes geklärt werden.
    Die kath. Kirche muss sich in ihrem System ändern. Heute entscheiden noch immer viele alte, welt- und lebensfremde Männer in Rom über die Zukunft der kath. Kirche und somit auch über alle Mitglieder. Niemand in diesem System will einsehen, dass wohl die Mehrheit der Katholiken auf die vorgegebene Sexuallehre pfeift.
    Junge, aufgeschlossenere Leute der kath. Kirche werden so lange im System zu Grunde geprägt, dass sie dann im Alter, wenn sie die entsprechenden Positionen erklommen haben, die ewig bekannte und gleiche, 2000-jährige Leier weitersingen.

    Parallel dazu veröffentlicht Bistum um Bistum eine aktuelle Studie zu vergangenen Missbrauchsfällen. So kürzlich das Bistum Münster:
    – 75 Jahre
    – 610 Opfer, rund 5100 Fälle
    – 196 beschuldigte Täter
    Die wichtigste Aussage der Studie ist jedoch, dass 4,1% aller Priester auch Täter waren. Wenn ich nun 25 Priester in einer Ansammlung sehe, stelle ich mir vor, dass rein rechnerisch, einer von ihnen ein Missbrauchstäter sein muss. Macht Freude.
    Wie viele Bistümer haben noch keine Zahlen veröffentlicht?

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