Heinz Angehrn

De mortuis nihil nisi

Nun da der Sarkophag in den Vatikanischen Grotten ruht, nun da die erste mediale Aufregung abgeflacht ist, erlaube ich mir, auch Stellung zu beziehen.

Zum ersten ist es mir wichtig zu betonen, dass es bis heute ein Erschrecken, ja ein tiefes Mitleid ist, mit dem ich den Weg des Priesters Joseph Ratzinger bis hin zum höchsten Posten, den unsere Institution zu bieten hat, wahrgenommen habe. Da hat sich einer verbiegen, verhärten, verbrauchen lassen, bis er nicht mehr er selber war, sondern exakt das Kunstprodukt, das der Machterhaltung der Institution dient, aber nicht mehr ein eigenständiges, lebendiges Ich. Die Ehre Gottes aber ist der lebendige Mensch. Rote Schuhe, weisse Pelze – Kompensation.

Ich zitiere Biermann im Original:
«Du, lass dich nicht erschrecken
In dieser Schreckenszeit
Das woll’n sie doch bezwecken
Dass wir die Waffen strecken
Schon vor dem großen Streit
Schon vor dem großen Streit»

Doch Priester und Professor Joseph erschrak ob der emotionalen und auch leiblich-körperlichen Wucht, mit der 1967/68 seine Studenten an hergebrachten Macht- und Moralstrukturen rüttelten. Er hätte mit ihnen einige Bier trinken gehen können, hätte ihren wilden Reden lauschen, ja sich an ihnen berauschen können, und hätte erkannt: Da pocht das Leben auch an meine Tür, da ist die Chance da, mich selber besser kennen zu lernen.
Doch das Gegenteil geschah: Er floh, zunächst in die Beschaulichkeit der Oberpfalz, auch ins schöne Ritual, dann in die kalte Sicherheit der schon seit Jahrhunderten vorhandenen lehramtlichen Aussagen und rechtlichen Regelungen. Und dort stieg er auf, bis er dann selber definieren konnte und durfte, was wahre Lehre ist und was nicht, wer dazugehören durfte und wer nicht. Er machte sich so zum Handlanger eines Denkens, das Leben in Fülle ganz bewusst verhindern wollte und will. Und so fiel der Bannstrahl auf all diese Übeltäter: Boff, Drewermann, Halbfas, Ranke-Heinemann, Cardenal … ohne Zahl.

Ich gebe Urs Eigenmann (hier auf kath.ch en detail nachzulesen) recht in seiner These, dass Joseph Ratzinger als Papst Benedikt mit seiner Jesus-Trilogie unbewusst aufgrund seiner Urängste eine ganz eigenartige Sicht des Anfangs des Christentums zu glauben und zu verbreiten begann. Denn: Jesus von Nazareth, zunächst apokalyptischer Wanderprediger, verkündete ja als Grundbotschaft das Anbrechen des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit, das Erstarken einer Institution mit Regeln und Paragraphen wäre ihm fremd gewesen. Jesus von Nazareth forderte seinen Jüngerkreis zu radikaler Nachfolge auf, Schuhe und Kleider waren da ohne Bedeutung. Jesus von Nazareth wäre wohl selber ein 68er gewesen und hätte des Herrn Professors Beschaulichkeit mehr als nur gestört. Der fokussierte darum sehr schnell und wenig historisch auf den geglaubten Christus des Johannesevangeliums und der frühen Kirche, denn da war Sicherheit, da war Ordnung, da war Ruhe. Aber: Ohne den historischen Jesus kein Christus, kein Christentum. Wer dessen Grundbotschaft bagatellisiert, verfälscht (war das nicht der Vorwurf an die Übeltäter?).

(Ratzinger exegetisierte in dem Sinne auch die Erzählung von der Versuchung Jesu. Doch etwas anderes ist die wahre Versuchung der Jünger/innen Jesu bis heute: verhärtet, verbittert, verbraucht, erschreckt aus der bösen Welt zu fliehen und so das Reich Gottes abzuschreiben.)

De mortuis nihil nisi … doch verstehen Sie, doch versteht: Ich schreibe hier aus Mitgefühl und nicht im Zorn.

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  • : pixabay
10. Januar 2023 | 06:00
von Heinz Angehrn
Lesezeit: ca. 2 Min.
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5 Gedanken zu „De mortuis nihil nisi

  • Michael Herr Bamberger sagt:

    Lieber Herr Angehrn

    Folgende Aspekte mögen Ihre aufschlussreichen Zeilen ergänzen:

    Von 1982 bis 2005 war Ratzinger bekanntlich Kardinalpräfekt der Kongregation für die Glaubenslehre. Es braucht nicht viel Fantasie um sich auszumalen, welche Unmasse an Hilferufen, Meldungen und Dokumenten bezüglich des weltweiten klerikalen Missbrauchs in diesen 23 Jahren über seinen Schreibtisch gingen, ohne dass er sich öffentlich dazu geäussert hätte, geschweige denn die weltlichen Behörden zu informieren.

    Ratzingers tölpelhafte, 82 Seiten lange Replik auf das Münchner Gutachten vom Februar 2020 war in diesem Zusammenhang nur eines unter vielen Beispielen seiner im besten Fall ambivalenten Haltung.

    An dieser Stelle sei auch an das Osterfest 2010 im Vatikan erinnert, wo sich folgendes zutrug:

    “Während der Skandal um sexuellen Missbrauch in der Kirche die Osterpredigten in Deutschland bestimmte, hat Papst Benedikt XVI. zu dem Thema geschwiegen. Der Dekan des Kardinalskollegiums, Angelo Sodano, wich dagegen vom Protokoll ab, um sich hinter den Papst zu stellen, der wegen des Skandals mehrfach persönlich angegriffen worden war. “Heiliger Vater, das Volk Gottes ist mit Dir und wird sich nicht von dem unbedeutenden Geschwätz dieser Tage beeinflussen lassen”, sagte Angelo Sodano unter dem Jubel der Anhänger des Papstes,..” (Süddeutsche Zeitung, 4.4.2010)

    Und wieder schwieg Ratzinger…

    • Daniel Erni sagt:

      wer Benedikt XVI als “tölpelhaft” bezeichnet outet sich als Respektlos, unwissend, vorgefasst in der eigenen Meinung und unbelehrbar.

  • stadler karl sagt:

    Es scheint auch in der Theologie so zu sein, dass jeder und jede Vertreterin dieses Disziplin kanonisierte Schriftstellen nach seinem/ihrem Gusto liest und interpretiert. Begründet wird die je eigene Lesart zumeist mit hermeneutischer Exegese. Und so gibt es fast so viele Christus-Gestalten wie es Theologinnen und Theologen gibt. Zeitgebundene Christus-Gestalten, die alle beanspruchen, für die Wahrheit und das Heil der Menschen zu stehen. Auch Ratzinger beruft sich in seiner Sichtweise darauf. Aber dass Ratzinger während seiner aktiven Tätigkeit als Theologe einen derart fundamentalen Wandel zu Verhärtung und Machterhaltung hin durchgemacht haben soll, wie ihm immer wieder vorgeworfen wird, scheint nicht überzeugend begründet zu sein. Im Jahre 1972 las ich seine “Einführung ins Christentum”, die kurz zuvor im dtv-Verlag erschienen war. Bereits damals bekundete ich Schwierigkeiten, viele seiner Ausführungen mitzutragen. Aber dass sich seine damalige Haltung gegenüber Publikationen und Verlautbarungen in späteren Jahrzehnten, auch in diesem Jahrhundert, grundlegend verändert hätte, wage ich, dies auch als theologischer Laie, zu bestreiten. Seine Denkungsart bezüglich des Verhältnisses von Glaube und Wissenschaft, staatlichem Recht und Naturrecht, Begründung von Moral und Ethik etc. waren in den Grundzügen bereits damals messerscharf zu spüren. Da findet sich kaum ein Bruch in seinem Denken, wie dies ihm von vielen Gegnern und Verächtern angedichtet wird.
    Dass er nicht mit allen 68ern ein Bier trinken wollte, ist leidlich nachvollziehbar. Zwar längstens nicht bei allen, aber bei nicht wenigen, nicht zuletzt bei den vorlauten Meinungsmachern, war egozentrische Hybris um nichts weniger ausgebildet als bei manchen damals einflussreichen Autoritäten, die sie lauthals bekämpften. Da konnte es in Studentendiskussionen leicht passieren, dass man als “bourgeoiser Reaktionär” abgestempelt wurde, bloss weil man sich dagegen wehrte, die Auswirkungen marxistischer Ideologie nicht allzu sehr schön zu reden. Da fanden sich auch solche, die pilgerten bis nach Peking oder Nordkorea, wo nicht Millionen, sondern zig-Millionen ins Gras beissen mussten und fühlten sich dennoch berufen, solchen Verhältnissen halbwegs das Wort zu reden und uns Naiven als Zukunftsvisionen darzustellen. Kaum erreichten sie mittels politischer Seilschaften ihre Ämter, predigten sie den Stammtischen Menschenrechte. Ratzinger war auch nicht der einzige, der sich nicht mit allen 68ern anzufreunden vermochte. Wenn es Adorno als Rektor zu bunt wurde, liess er Universitätsräumlichkeiten in Frankfurt durch die Polizei räumen. Wer das Denken von Horkheimer ein wenig kennt, spürt sehr bald, dass ihm manche vorlauten Auftritte dieser Generation zum Teil überhaupt nicht geheuer waren. Und wenn Ratzinger von manchen Gegnern gern als einer der Hauptverantwortlichen der ganzen innerkirchlichen Missbrauchstragödie gebrandmarkt wird, so darf auch daran erinnert werden, dass in Deutschland im letzten Jahrhundert politische Kräfte, die genau aus dieser 68er-Bewegung heraus erwuchsen, die Abschaffung oder zumindest Abmilderung des § 176 StGB sich auf die Fahne schrieben und in der Gesellschaft ein Denken pflegten, das das Problem des Missbrauchs von Kindern gewiss nicht kleiner machte.
    Gewiss, Ratzinger wollte dem tradierten, naturrechtlichen Begründungsansatz für Ethik und Moral treu bleiben, was sich leider keineswegs in allen Teilen heilsam auswirkte und seit Jahrtausenden auch manches Unheil anrichtete. Und er war auch der festen Überzeugung, dass der Kirche so etwas wie Orientierungsfunktion bezüglich Glaubenswahrheiten und Moral gegenüber den Gläubigen zukommt. Gerade auch die Regensburger-Rede, wo ihm die Intention einer Äusserung schlichtweg verdreht wurde, nicht nur im islamischem Raum, war ein Beispiel dafür. Auch viele Vertreterinnen und Vertreter der modernen Theologie machen sich anheischig, irgendwie als moralischer Kompass gegenüber den Menschen wirken zu wollen. Als Aussenstehendem will einem jedoch scheinen, dass Ratzinger den Anstand hatte, im Lichte des kirchlichen Wahrheitsanspruches bemüht zu sein, sich einem Wahrheitsbegriff zu verpflichten, der nicht im Nachgang gesellschaftspolitischer Entwicklungen einfach angepasst und zeitgemäss geformt werden kann, auch nicht mit ins Feld geführten “humanwissenschaftlichen Erkenntnissen”. Ratzinger sah denn auch, dass mit derlei Argumenten für solche “Wahrheitsangleichungen” lediglich eine Immunisierungsstrategie gegen Kritik am kirchlichen Wahrheitsanspruch betrieben würde. Es war ihm bewusst, dass Generationen von Gläubigen, die Zeit ihres Lebens in vorgegebene Lebensformen gedrängt wurden und sich danach zu richten suchten, mit solchen Richtungsänderungen implizit verhöhnt würden.
    Ratzinger stand vor Augen, dass entweder ein theologischer Wahrheitsbegriff unabhängig, nicht funktionsgebunden von historisch-gesellschaftspolitischen Prozessen als Orientierungshilfe dienen muss oder dass es der Kirche schlicht nicht zusteht, in ethisch-moralischen Belangen einen Wahrheitsanspruch gegenüber den Gläubigen zu erheben. Auch wenn man seinen Ansichten inhaltlich über weite Strecken nicht folgen will: Diese Haltung ist ihm hochanzurechnen.

  • Michael Bamberger sagt:

    Einige Stilblüten aus Ratzingers Nähkiste:

    “Es ist gut, dass sie die Menschen in Sachen Harry Potter aufklären, denn dies sind subtile Verführungen, die unmerklich und gerade dadurch tief wirken, und das Christentum in der Seele zersetzen, ehe es überhaupt recht wachsen konnte” (Brief Ratzingers an die Potter-Kritikerin Gabriele Kuby aus dem Jahr 2003)

    “Das jüdische Schrifttum und die jüdische Geschichte erfüllten sich ausschliesslich in der Gestalt von Jesus Christus.” (Ratzinger in der New York Times, 15. April 2005)

    “Die verschiedenen heute festzustellenden Auflösungstendenzen bezüglich der Ehe, wie uneheliche Lebensgemeinschaften und die »Ehe auf Probe«, bis hin zur Pseudo-Ehe zwischen Personen des gleichen Geschlechts sind hingegen Ausdruck einer anarchischen Freiheit, die sich zu Unrecht als wahre Befreiung des Menschen ausgibt.” (Ratzinger in der Lateranbasilika in Rom am 6. Juni 2005)

    “Aber wenn man nur Know-How weitergibt, nur beibringt, wie man Maschinen macht und mit ihnen umgeht, und wie man Verhütungsmittel anwendet, dann braucht man sich nicht zu wundern, dass am Schluss Krieg herauskommt und AIDS-Epidemien.” – (Ratzinger im TV-Interview mit ARD, ZDF, Deutscher Welle und Radio Vatikan, 5. August 2006)

    “Die indigenen Völker Amerikas haben sich im Stillen nach Christus gesehnt.” (Ratzinger in 2007 in Lateinamerika)

    …etc…

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