Heinz Angehrn

Zum 1.August: Leitkultur aus Schweizer Sicht

(Ich habe versprochen, den letzten Text zum Ukraine-Tribunal nur kurz stehen zu lassen. Promissa servanda sunt.)

Eine engagierte Diskussion zum Thema Leitkultur kennen wir seit Jahren, durch die Flüchtlingskrise von 2015 noch verstärkt, aus Deutschland. Nun fällt auf, dass einer der geistigen Vordenker im Deutschschweizer Journalismus, Eric Gujer als NZZ-Chefredakteur und Samstag-Artikel-Schreiber, den Terminus auch für uns stärker in den Vordergrund rückt. Und da gerade der Nationalfeiertag zu begehen ist, lohnt es sich, seine Anregung aufzunehmen.

Für die Schweiz, auch schon «Willensnation» genannt, in Absetzung von geographisch oder kulturell logischen Definitionen, stellt sich die Ausgangslage anders dar. Geographisch gesehen sind wir letztendlich ein Zufallsprodukt von strategischen Beschlüssen im Wiener Kongress von 1815. Konfessionell-religiös sind wir seit dem 16.Jahrhundert keine Einheit mehr. Und wenn Golo Mann in der Einleitung zu seinem Monumentalwerk schreibt, dass den Deutschen wenigstens die Sprache zur Selbstdefinition blieb, trifft nicht einmal dies für uns zu.

(Zwischenbemerkung: Vor diesem Hintergrund ist es irgendwie ja verständlich, dass gefordert wird, dass nebst dem 01.08. – 1291 –  als zweiter Nationalfeiertag der 12.09. – 1848 – definiert werden soll. Die Bundesverfassung als Kompromissresultat des letzten innerschweizerischen Krieges diente wirklich einer nun staats-internen Definition von «Nation». Doch auf den 1.August mögen wir, die wir seit Jahrzehnten Lampions und Leuchtkerzen schwangen, doch nicht verzichten…)

Was also definiert eine «Schweizer Leitkultur», die schon Kindern und Jugendlichen in der Schule und noch mehr in späterem Alter Zugewanderten vermittelt werden muss? Dies im Sinne eines sozialen Konsenses: «Wer in diesem Land lebt, wer in dieses Land kommt, respektiert diese Werte».

Es ist nicht eine Sprache, es ist nicht eine konfessionelle Ausrichtung, es ist also auch nicht eine bestimmte Form von «Volkskultur». Das kommt alles nicht in Frage. Es sind ausschliesslich die geistigen Prämissen, die von den weltweiten Ereignissen Ende des 18.Jahrhunderts bis hin zu 1848 und damit zu unserem Staatswesen führten. Nämlich:

1. Direkte Demokratie
2. Föderalismus und Subsidiarität
3. Neutralität
4. Toleranz

Dies soll noch kurz ausgeführt werden:

  1. Die Mitsprache der Bürger/innen an politischen Entscheidungsprozessen beschränkt sich nicht auf Wahlen, in denen die Verantwortung alle paar Jahre an Vertreter/innen delegiert wird, sie ist vielmehr ein permanenter Prozess. Nicht der Bundesrat als Exekutive hat das letzte Wort, sondern das Volk.
  2. Diese Entscheidungsprozesse finden immer auf der tiefst möglichen Stufe, wo sie angegangen werden können, statt. Als Nachfolgeorganisationen der Genossenschaften, die unser Leben seit Jahrhunderten prägten, erfolgen sie in den Gemeinden, Schulgemeinden, Kirchgemeinden, politischen Gemeinden. Der Gesamtstaat ergänzt und hat möglichst wenig Macht.
  3. Jahrhundertelange Erfahrungen haben uns gelehrt, dass wir nie mehr Partei in aggressiven und kriegerischen Auseinandersetzungen sein wollen. Trotzdem unterstützen wir alle nichtaggressiven, nichtmilitärischen Formen der Durchsetzung des Völkerrechts und der Menschenrechte und verstehen uns als deren Garant.
  4. Wir respektieren gerade wegen unserer Tradition als multikulturelles Land seit Anbeginn auch neue und zukünftige Formen, wie Menschen im Rahmen der Punkte 1 bis 3 ihr Leben, ihre Lebensphilosophie, ihren Glauben, ihre Gewissensentscheide und ihre Partnerschaften gestalten und umsetzen. Die Freiheit des Einzelnen endet erst bei der Freiheit des Nächsten.

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  • : pixabay.com
1. August 2023 | 06:00
von Heinz Angehrn
Lesezeit: ca. 2 Min.
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3 Gedanken zu „Zum 1.August: Leitkultur aus Schweizer Sicht

  • stadler karl sagt:

    Das würde ich alles sofort unterschreiben, Herr Angehrn! Was man unter dem Begriff “Willensnation” genau zu verstehen hat, war mir persönlich zwar immer ein wenig schleierhaft?
    Ich meine, eine gewisse Kontinuität, zumindest eine vertragliche zwischen den einzelnen Ständen, die sich mit der Zeit diesem Bund anschlossen, lässt sich historisch in das Gebilde, das man “Schweiz” oder “Eidgenossenschaft” nennt, historisch gewiss hineinlesen. Dies, obwohl die CH ja erst mit dem westfälischen Frieden 1648 im eigentlichen Sinne reichsunabhängig, respektive souverän wurde, was anlässlich des Wienerkongresses noch einmal bestätigt wurde. Aber eine einschneidende staatsrechtliche Zäsur stellt 1848 mit der BV sicher dar. Immerhin bedeutet die BV den Wechsel vom Staatenbund zu einem Bundesstaat, eine doch markante völkerrechtliche Veränderung dieses Gebildes “Schweiz”.

    Obwohl die Schweiz im Grunde, wenn es um politische Entscheidungsprozesse geht, im Vergleich zu andern Staaten ein doch eher schwerfälliges Gebilde ist, erweisen sich die ersten beiden Punkte, die Sie ansprechen, im Grossen und Ganzen als äusserst bewährte staatrechtliche Organisation und politisches Gefüge, auch wenn manche gesellschaftspolitischen Entwicklungen dadurch manchmal um einiges mehr Zeit brauchen anderswo. Zu denken wäre in diesem Zusammenhang etwa an die Einführung des Frauenstimmrechtes. In Deutschland wird in der politischen Elite teilweise auch die Meinung vertreten, dass die direkte Demokratie eine völlig untaugliche Staatsform sei, wenn es darum geht, über komplexe politische Sachfragen zu befinden. Den Beweis, dass dem, über alles gesehen, wirklich so ist und dass die grundsätzlichen Entscheidungen der BRD kluger ausfallen als die Volksentscheide in der CH, bleibt diese Elite allerdings schuldig. Unterstützt wird man in dieser Sichtweise auch von Frau Gertrude Lübbe-Wolff, Tochter von Hermann Lübbe, eines emeritierten Professors für politische Philosophie an der Uni Zürich, sie selber ehemals Professorin für Öffentliches Recht an der Uni Bielefeld und während gut zehn Jahren Bundesverfassungsrichterin in Deutschland. In ihrem Buch “Demophobie” zerzaust sie die manchmal etwas herablassende elitäre Voreingenommenheit mit eingängigen Argumenten.
    Auch bezüglich Punkt vier ist Ihnen gewiss beizustimmen. Jedoch gesamthaft gesehen sollte die Migration zweifelsohne mehr oder weniger unter national-staatlicher Kontrolle bleiben und vom Staat einigermassen gesteuert werden können. Dieser Punkt bereitet mir persönlich auch ein wenig Sorge. Wer die Augen offen halten will, weiss, dass nicht alle diesbezüglichen Ängste das Resultat populistischer Vereinnahmung sind.

  • Stadler karl sagt:

    Und als Nachtrag, zum vierten Punkt, Herr Angehrn, möchte ich vorschlagen, dass unsere je eigene Freiheit bei der Freiheit des Nächsten endet, wie Sie richtig in einer liberalen Denkweise anführen, bzw. mit dieser Freiheit verträglich ausgestaltet sein muss. Das will aber heissen, dass damit der naturgemässe Handlungsspielraum des Nächsten gemeint sein muss. Und was könnte die daraus folgende Schlussfolgerung sein?
    Vielleicht, dass wir uns aus unseren anthropozentrischen Grundhaltungen ethisch verabschieden sollten. Ein authentischer menschlicher Handlungsspielraum, und damit menschliche Freiheit, kann letztlich nur in einer intakten ökologischen Welt gedeihen. Das Problem und meine Angst: Damit nimmt der Begriff des “Nächsten” eine globale Bedeutung an. Eine Herausfoderung, vor welcher mich fürchtet.
    Allerdings, ich habe derzeit an unserem staatlichen Geburtstag in einer Beiz bereits das dritte grosse Bier intus, was die Nachvollziehbarkeit dieser Überlegungen allenfalls schmälern wird.

  • Hansjoerg sagt:

    Wie steht es eigentlich mit der Leitkultur der kat. Kirche?
    Zur Zeit findet in Portugal der Weltjugendtag mit Beteiligung des Papstes statt. Ich bin gespannt, ob die grossen Würdenträger, oder eventuell der Papst selbst, die in Portugal passierten Missbrauchstaten durch Geistliche thematisieren werden? Immerhin sind in den letzten Jahrzehnten in Portugal gut 4800 Jugendliche sexuell missbraucht worden.
    Auch den jungen Katholikinnen und Katholiken sollte klar sein, dass nicht immer alles abläuft, wie es den Anschein macht. Wenn die Jugendlichen nicht wachsam sind, die kath. Kirche ihr System nicht anpasst, wird es mit Missbrauchstaten immer so weiter gehen.

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