Sich der Kirche zuwenden – oder sich von ihr abwenden? © Walter Ludin
Walter Ludin

Warum verlassen Katholiken (Reformierte) ihre Kirche?

Es ist paradox: Die reformierte Kirche hat schon längst die Reformen verwirklicht, welche Katholiken seit Jahrzehnten hartnäckig fordern. Das grundlegend andere Kirchenverständnis ist wohl die Ursache für dieses Paradoxon.

Die katholische Kirche ist gemäss ihrem Selbstverständnis die unverzichtbare Heilsvermittlerin. Während vielen Jahrhunderten gab es den Grundsatz «ausserhalb der Kirche kein Heil». Auch wenn des Zweite Vatikanische Konzil davon Abstand genommen hat: Die Kirche und damit die Teilnahme am Gottesdienst sind zentral.  Wer am Sonntag nicht in die Kirche geht, macht sich (schwer) schuldig.

Anders bei den Reformierten: Die Kirche hat in ihrem Verständnis längst nicht den gleich grossen Stellenwert wie bei den Katholiken. Dies zeigt sich konkret an der Frage der Sonntagsgottesdienste. Diese sind fast so etwas wie nice to have:  «Schön, dass ihr hier seid. Aber es ist auch möglich, am Sonntag Gott im Wald oder an einer Vernissage zu begegnen.»

Was bedeutet dies für die Kirchenaustritte? Weil die Reformierten und ihr Heil nicht so sehr an die Kirche gebunden sind, hat diese keine so grosse Adhäsions-Kraft. Man ist nicht stark mit der Kirche verbunden, so dass es verhältnismässig leichtfällt, sie zu verlassen.

Und bei den Katholiken: Ihre Kirchenbindung ist stärker.  Es braucht wichtige Push-Faktoren, um sie aus der Kirche herauszudrängen. Nun ist es offensichtlich, dass diese in den letzten Jahrzehnten für viele ein unerträgliches Mass angenommen haben: vor allem sexueller Missbrauch, Verweigerung von gut (auch biblisch!) begründeten Reformen.

Unter dem Strich: Die schwächere Kirchenbindung der Reformierten macht es Gläubigen einfacher, ihrer Glaubensgemeinschaft den Rücken zuzukehren. Und wenn Katholiken noch und noch von ihrer Kirche enttäuscht werden, verlassen sie ihre Kirche trotz ihrem starken «Kirchen-Gen». So sind beide Kirchen fast gleich intensiv auf der Verliererseite.

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Sich der Kirche zuwenden – oder sich von ihr abwenden? © Walter Ludin
23. November 2020 | 07:28
von Walter Ludin
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6 Gedanken zu „Warum verlassen Katholiken (Reformierte) ihre Kirche?

  • Michael Bamberger sagt:

    Oftmals werden in der Schweiz die Kirchensteuern als wichtiger Austrittsgrund genannt. Stimmt das? Frankreich z.B. – das keine Kirchensteuer kennt – ist ein Land mit einem der stärksten Mitgliederrückgänge bei den grössten Kirchen. Siehe dazu:

    https://www.deutschlandfunk.de/stellenwert-von-religion-wie-geht-es-gott-in-frankreich.886.de.html?dram:article_id=446347

    Ist es also nicht vielmehr eine Frage des Bildungsniveaus, welche die Schafherden laufend dezimieren (abgesehen von den hausgemachten Skandalen der Kirchen), gekoppelt mit einem vermehrten Wissenschaftsverständnis, denn wer anders als die Wissenschaftler trugen und tragen laufend zu den schmerzlichen Kränkungen der Götter bei:

    Kopernikus rückt die Erde aus der Mitte der Welt.

    Darwin schupst dem Menschen die Krone der Schöpfung vom Kopf.

    Freud legt den triebgesteuerten Menschen offen.

    Die Neuropsychologen entzaubern den freien Willen als Illusion.

    …und so weiter und so fort…

  • stadler karl sagt:

    Dass der Mensch immer wieder mit Demut vernehmen musste, dass er nicht das Zentrum des Kosmos bildet, sei es mit der Umkehr des ptolemäischen Weltbildes, mit der Evolutionstheorie durch Darwin oder mit der Entwicklung der Neurowissenschaften, mag, vor dem Hintergrund eines bestimten Menschenbildes sicher zutreffen. Allerdings, bereits das antike Denken hätte sich gegen diese Einwände teilweise sehr wohl als immun erwiesen, verstand es teilweise den Menschen doch keineswegs als den Mittelpunkt der Welt, selbst angesichts des ptolemäischen Weltbildes nicht. Und das Leib-Seele-Problem ist durch die Neurowissenschaft wahrscheinlich immer noch nicht gelöst worden. Gerade hierzu lassen ich auch immer mehr Stimmen von Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftern vernehmen. Beispielsweise weder Wolf Singer noch ein Gerhad Roth ist es bis anhin gelungen, für mentale Entitäten eine abschliessende wissenschaftliche Erklärung zu liefern, zumindest nicht eine Erklärung, die in den Naturwissenschaften alllgemein auf unumstösslsiche Anerkennung stossen würde.
    Die Welt der Gründe lässt sich nach wie vor nicht ausschliesslich mit einem naturalistischen Kausalbegriff fassen. Und man stelle sich vor, was dies auf allen Ebenen des menschlichen Lebens für Folgen hätte, wenn wir wirklich im Innersten davon überzeugt wären, dass die Willensfreiheit nichts als eine Illusion wäre? Die neurologischen Forschungs-Experimente, die zu tausenden durchgeführt wurden und Ablaufprozesse, die messtechnisch präzis erfasst wurden, vermögen die unbestreitbaren Phänomene von mentalen Entitäten nicht wegzudeuten und schon gar nicht zu erklären, auch wenn sie noch so detailliert und präzise neurophysiologische Prozesse deskriptiv erfassen. Allerdings bedeutet dies nicht zwingend, dass beispielsweise das cartesische Menschenbild zutreffen würde.
    Dass aber die Austritte aus Religionsgemeinschaften nicht ausschliesslich, vielleicht nicht einmal in erster Linie mit Skandalen oder gesellschaftspolitischen Veränderungen zu tun haben, sondern wirklich vielleicht auch mit dem Verhältnis von “fides et ratio”, davon bin ich persönlich auch überzeugt.

  • Michael Bamberger sagt:

    Apropos “fides et ratio” kommt mir spontan das BBC Interview von 1959 in den Sinn, als John Freeman als Interviewer seinem Gast Bertrand Russell die Frage stellte, was er den Menschen denn raten würde, die tausend Jahre später leben. Darauf antwortete Russell wie folgt:

    “I should like to say two things, one intellectual and one moral:

    The intellectual thing I should want to say to them is this: When you are studying any matter or considering any philosophy, ask yourself only what are the facts and what is the truth that the facts bear out. Never let yourself be diverted either by what you wish to believe or by what you think would have beneficent social effects if it were believed, but look only and solely at what are the facts. That is the intellectual thing that I should wish to say.

    The moral thing I should wish to say to them is very simple. I should say: Love is wise, hatred is foolish. In this world, which is getting more and more closely interconnected, we have to learn to tolerate each other. We have to learn to put up with the fact that some people say things that we don’t like. We can only live together in that way, and if we are to live together and not die together we must learn a kind of charity and a kind of tolerance which is absolutely vital to the continuation of human life on this planet.”

    Und hier das entsprechende Filmdokument: https://www.youtube.com/watch?v=s7HOMfcRFmY

  • Hansjörg Grolimund sagt:

    Ich versuche es mal in einfachen Worten zu sagen:

    Eventuell haben viele Katholiken genug von der Diskriminierung der Frauen. An der Basis der Gemeinschaft leisten die Frauen die grösste Arbeit und sind am aktivsten. Dennoch werden sie innerhalb der kath. Kirche nicht als gleichberechtigte Menschen gesehen.

    Die tausenden von Missbrauchs- und danach Vertuschungsfällen helfen nicht die Mitglieder bei der Stange zu halten. Ein Änderung der Situation ist nur äusserst schwach zu erkennen.

    Im Bistum Chur wählen, oder wählen eben nicht, 22 alte bis uralte Männer einen neuen Bischof. Diese Uraltmänner bestimmen somit die Zukunft des Bistums, also auch der Jungen und der Frauen. Womit wir wieder bei der Zweiklassenkatholiken sind. Männer mit allen Möglichkeiten, Frauen die nicht gleichberechtigt sind.
    Will die kath. Kirche nicht noch mehr Mitglieder verlieren, müssen endlich sicht- und spürbare Veränderungen erfolgen.

  • Michael Bamberger sagt:

    @ Hansjörg Grolimund

    Wie kommt es dann, dass die Kirchenaustritte bei den Reformierten noch prägnanter als bei den Katholiken sind?

    • Hansjörg Grolimund sagt:

      @Michael Bamberger
      Ja, das habe ich als Schulbub mit schlechten Noten auch gesagt: “Einer war noch schlechter als ich”

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