Gian Rudin

Von der Vorsehung zur Ansehung

Gott sieht die Welt in ewiger Gegenwärtigkeit. So versucht Augustinus in seinem Buch Der Gottesstaat in zeitlicher Diktion das nicht der Zeit unterworfene Wesen Gottes ansichtig zu machen. Das allgegenwärtige Auge Gottes. In manchen Zeiten war es den Menschen ein Panoptikum des Schreckens und eine Tyrannei der penetranten Bemusterung. Es ist aber auch ein Trostbild der bedrängten Kreatur. Am Schluss wird’s der gute Gott schon richten.  Providentia, Vor-Sehung, ist eines dieser unangenehm-weitläufig und interpretationsoffenen theologischen Fremdwörter. Es führt ins Grübeln. Es produziert denkerische Verlegenheit. Ist der christliche Gott schlussendlich nichts anderes als eine willkürliche Schicksalsmacht, wie sie in der griechischen Mythologie in verschiedenen Göttinnen verkörpert war? Die Schicksalsgöttinnen stehen über den anderen Göttern und repräsentieren eine unwandelbare und anonyme Macht. In der nachhomerischen Zeit treten die Moiren meist zu dritt auf und wirken wie ein Zerrbild der Dreifaltigkeit. Klotho, die Spinnerin des Lebensfadens. Lachesis, die Zuteilerin, verfügt über die Länge des Fadens. Atropos schliesslich, die Unabwendbare, zertrennt den Faden und bestimmt über den Todeszeitpunkt der Sterblichen.

Glücklicherweise findet sich das Wort Vorsehung nicht im biblischen Sprachgebrauch. Das hebräische Denken skizziert Gott als einen leidenschaftlichen Partner seines Volkes. Gott ist beziehungsfähig. Er ist kein kruder und apathischer Einzelgänger. Und der Mensch als sein Ebenbild ist wirklich frei. Die menschliche Freiheit markiert einer Demarkationslinie zur göttlichen Souveränität. Gottes Allmacht endet an der Würde der menschlichen Selbstbestimmung. Es war und ist ein intensives Ringen in der Theologiegeschichte, wie man die Attribute Allmacht, Allwissen und Allgüte in einen sinnvollen Deutungszusammenhang bringen soll. Aus der griechischen Lehre über das Absolute, war das Apathie-Axiom bekannt. Das oberste Seinsprinzip ist unwandelbar und unveränderlich, quasi unantastbar. Die theopaschitische Formel, dass das Leiden der menschlichen Natur Christi auch Auswirkungen auf die Uneingeschränktheit Gottes habe, wurde über lange Strecken hinweg zurückgewiesen. Mit dem offenen Theismus entwickelte sich vor allem in den USA eine Denkform, welche die Flexibilität und Zugewandtheit Gottes, wie sie in der Bibel bezeugt wird, auch auf eine Umformulierung der Lehre der Eigenschaften Gottes anwendet. Gottes Allmacht zeigt sich also nicht in der Fähigkeit einen Stein zu erschaffen, welcher so gewichtig ist, dass er ihn selbst nicht emporheben kann. Sie zeigt sich in der unermesslichen Kreativität seiner Liebe und Treue. Dies Allmachtslogik der Liebe findet immer neue Wege und lässt in Sackgassen Horizonterweiterungen aufscheinen. Der betende und vertrauende Mensch ist aufgefordert sein begrenzten Möglichkeitssinn durch den Blick Gottes in neue Weiten geleiten zu lassen. Diese Horizontverschmelzung lässt Räume für Wunderbares entstehen. Wenn Gott und sein allsehendes Auge zu stark in maximalen Kategorien der Erhabenheit gezeichnet wird, dann gerinnt Gott zu einem starren und ausdruckslosen Götzen. Er wäre Gefangener seiner eigenen Göttlichkeit, wie der unlängst verstorbene Theologe Eberhard Jüngel formuliert.

So wird das Auge der Vorsehung, das über allem wacht, zu einem Auge der Ansehung. Gott sieht uns. Gott sieht uns an. Gott sieht uns lächelnd und liebend an. Gott ist. Gott ist mit uns. Gott lebt.

Bildquellen

  • Vorsehung: © Gian Rudin
Detail, Ernst -Fuchs-Kirche, Thal bei Graz
17. Februar 2022 | 23:18
von Gian Rudin
Lesezeit: ca. 2 Min.
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