Markus Baumgartner

Von der rhetorischen Brillanz eines Traumes

Am 28. August 1963 hielt Martin Luther King in Washington eine der grössten Reden der Geschichte. Fast wären die Sätze von «I Have a Dream» nie gefallen, die ihn so weltberühmt machen und sich tief ins Gedächtnis der Menschheit eingraben. Die prophetische und rhetorisch brillante Ansprache gegen Rassentrennung ist auch nach 60 Jahren noch weltbekannt. Der schwarze Bürgerrechtler traf Mitten in die Seele Amerikas. Sein Kampf ist noch immer aktuell.

Weniger als 13 Jahre von 1955 bis 1968 führte Martin Luther King die US-Bürgerrechtsbewegung an. In dieser Zeit erzielten die Afroamerikaner mehr echte Fortschritte in Richtung Rassengleichheit in Amerika als in den 350 Jahren zuvor. Damit ist Martin Luther King Amerikas herausragender Verfechter der Gewaltlosigkeit und gilt als einer der grössten gewaltfreien Führer der Weltgeschichte. Inspiriert von seinem christlichen Glauben und den friedlichen Lehren Mahatma Gandhis, führte Martin Luther King eine gewaltfreie Bewegung an, um die rechtliche Gleichstellung der Afroamerikaner in den USA zu erreichen. Er nutzte die Worte und den gewaltlosen Widerstand, um scheinbar unmögliche Ziele zu erreichen. Er ist der einzige Nicht-Präsident, dem ein nationaler Feiertag gewidmet und dem ein Denkmal in der US-Hauptstadt gewidmet ist.

Erinnerung an Präsident Abraham Lincoln

Der 28. August 1963 ist einer dieser typischen Sommertage in der US-Hauptstadt, heiss, schwül, schweisstreibend. Viele tragen trotz der Sommerhitze ihre Sonntagskleidung. Der Zeitpunkt für den Marsch für Arbeit und Freiheit ist kurz vor Rückkehr des Kongresses aus den Ferien bewusst gewählt. Er kommt der Elite ungelegen. Als Martin Luther King als erst 34-jähriger Baptistenprediger aus Atlanta auf den Stufen des Lincoln Memorial in Washington D.C. ans Rednerpult tritt, sind die Menschen erschöpft. 250’000 sind gekommen, schwarze und weisse Amerikaner, teilweise von weither angereist, aus Boston, Chicago und Atlanta. Bis zum Washington Monument verteilt sich die Menge.

Das Manuskript für die Rede von Martin Luther King war vorbereitet. Vier Minuten wollte er sprechen und kommt als Letzter am Ende einer langen Liste von Rednern und Musikern wie Bob Dylan oder Joan Baez an die Reihe. Direkt vor seiner Rede singt Mahalia Jackson, die Queen des Gospels. «Five score years ago», so hebt er an, vor fünfmal 20 Jahren. Bei dieser Wendung wussten alle, worauf und auf wen der Redner anspielt: auf den Mann, der steinern hinter King auf seinem marmornen Denkmalstuhl thront, auf Abraham Lincoln, den Sklavenbefreier und unbestritten grössten unter Amerikas Präsidenten, schreibt die «Süddeutsche Zeitung» und der «Tages Anzeiger». 1863, genau 100 Jahre zuvor, hatte er die schwarzen Amerikaner offiziell vom Joch der Sklaverei in den Südstaaten befreit und ihnen die Bürgerrechte verliehen. Martin Luther King machte klar: Hier geht es ums Ganze, um das Herz Amerikas, um das, was den Kern des Landes für alle ausmacht – für Weisse, für Schwarze, für jede und jeden, die Teil irgendeiner Minderheit sind. Es geht um das grosse Versprechen dieses Landes, dass alle die gleichen Rechte haben und allen die Chance zukommen muss, ein erfülltes Leben führen zu können.

Mahalia Jackson ruft den Traum hervor

Das alles hat Martin Luther King schon gesagt. Bewegend, eindrucksvoll genug, als Mahalia Jackson auf dem Podium einfach dazwischengeht. «Erzähl ihnen von dem Traum, Martin!», ruft sie ihm zu. Martin Luther King schiebt tatsächlich sein Manuskript zur Seite und beginnt auf einmal zu predigen. Wie ein Prophet zu künden von einem verheissenen Land, das dieses Amerika werden könnte – das er aber, wie einst die grossen Seher des Alten Testaments, vielleicht selbst niemals wird erleben dürfen. Es sind Worte, die die Nation bis ins Innerste erschüttern werden, schreibt die «Süddeutsche Zeitung» und der «Tages Anzeiger» weiter. «I have a dream», beginnt King also, «ich habe einen Traum, dass sich diese Nation eines Tages erheben und der wahren Bedeutung ihres Glaubensbekenntnisses gerecht werden wird: Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen sind.» Der erste Satz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776. Und weiter: «Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne ehemaliger Sklaven und die Söhne ehemaliger Sklavenbesitzer gemeinsam am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.» So wird aus der Massenkundgebung ein Appell an die Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit der Amerikanerinnen und Amerikaner, die an das gute Gewissen des Landes rührt wie keine zuvor. Es sind die in geradezu biblischer Sprache intonierten Worte Martin Luther Kings, die nicht nur in den USA, sondern weltweit die Menschen aufrütteln. 

«Endlich frei, endlich frei»

Achtmal wiederholt er diese Formel, «Ich habe einen Traum», so wuchtig, als würde er von der Kanzel seiner Gemeindekirche in Atlanta predigen. Einer dieser zutiefst berührenden Sätze dürfte bei vielen Familien in den USA besonders nachgehallt haben: «Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht nach der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden.» Immer weiter steigert sich King in die Rolle des prophetischen Künders, bis er seine Rede mit einer Zeile eines alten Spirituals beendet: «Endlich frei, endlich frei. Gott dem Allmächtigen sei Dank, wir sind endlich frei.» Alle drei grossen US-TV-Senderketten übertragen live. John F. Kennedy verfolgt die Rede wie Millionen Amerikaner vor dem Fernseher. Der «Marsch auf Washington» hat damit eines seiner Ziele erreicht: Der Druck auf den zaudernden Präsidenten wächst, die angekündigten Antidiskriminierungsgesetze auch durch den Kongress zu bringen. Das US-Nachrichtenmagazin «Time» ernennt Martin Luther King Anfang 1964 zum «Mann des Jahres». Wenige Monate später wird ihm als jüngster Mann der Geschichte als 35-jähriger den Friedensnobelpreis übergeben.

Bild Quelle thekingcenter.org
22. August 2023 | 06:04
von Markus Baumgartner
Lesezeit: ca. 4 Min.
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