Gian Rudin

Vom fabelhaften Nutzen der Wertschätzung: Ein Plädoyer

In der Echokammer der Spiegelbilder

Eine anankastische Persönlichkeitsstörung. Onychophagie, besser bekannt als zwanghaftes Nägelkauen. Das sind Krankheitsbilder, mit welchen sich ein Psychiater normalerweise beschäftigt. Umso erstaunlicher, dass der renommierte österreichische Psychiater und forensische Gerichtsgutachter Reinhard Haller sich mit scheinbar unspektakulären Alltagsphänomenen wie Wertschätzungen oder Kränkungen beschäftigt. Seine feinsinnigen Beobachtungen zu diesem Themenkomplex hat er vergangene Woche an einem Vortrag in der Pfarrei St. Josef in Zürich erläutert. Diese durch die gängigen medizinischen Raster fallenden zwischenmenschlichen Bekundungen, beinhalten jedoch ein enormes Potential, sowohl beflügelnde als auch zerstörerische Dynamiken in Gang zu setzten. Wie Haller betont leben wir in einer von narzisstischen Entgleisungen durchseuchten Gesellschaft. Während die Antike in dem selbstverliebten Narziss ein deutliches Warnsignal für eine überbordende Eigenliebe erblickte und die christlichen Wüstenväter in ihren Aussprüchen den Hochmut als Wurzel aller sündhaften Beziehungsstörungen bestimmten, ist Narzissmus heute salonfähig geworden. Während der für religiöse Schwärmerei unverdächtige Sigmund Freud noch 1908 von der narzisstischen Neurose sprach, ist der laszive Blick einer arroganten Sexyness heute allgegenwärtig. Oder um es mit den Worten des Rappers Veysel auszudrücken: Bra, scheiß mal auf Liebe, denn sie macht dich nur schwach, Bro (…) Spiegelbild, bin selbstverliebt. Es geht nur ums Geldverdien’n.

Kränkungen wuchern unbemerkt unter der Oberfläche

Haller spricht zudem von einer zunehmenden Digitalisierung der Emotionen. Wer seine Lebensfreude nur noch mit dem populären tränenlachenden Emoij auszudrücken vermag, droht gefühlstechnisch auszutrocknen. Ein Mangel an Formen authentischer Wertschätzung macht sich auch gesamtgesellschaftlich bemerkbar. Wenn die Gebrechlichkeit des Alters als nicht mehr als unverzichtbarer Bestandteil eines gesättigten Lebens betrachtet wird, sondern nur noch in Kalkulationstabellen als Störfaktor auftaucht, dann ist dies auch Ausdruck einer Krise der Wertschätzung. Aber auch arbeitspsychologische Untersuchungen können darlegen, dass ein wohlwollendes Arbeitsklima zu den wichtigsten Bestandteilen der beruflichen Zufriedenheit zählt. Ein Rechtsanwalt mit einem diagnostizierten psychischen Erschöpfungssyndrom, besucht regelmässig psychotherapeutische Sitzungen. Eines Tages betritt er mit einem ungetrübten Strahlen die Praxis. Sein Chef habe ihn gelobt, so die lapidar anmutende Begründung für die nach Aussen dringende Verbesserung seines mentalen Zustandes. Ein simples Lob hat hier eine therapeutische Wirkung entfaltet. Die heilsame Dimension wertschätzender Interaktion kann sich leider viel zu selten entfalten. Demgegenüber dominiert Geringschätzung viele alltägliche Gepflogenheiten. Zu nennen sei hier beispielsweise das Phänomen des ghosting. Gerade im multioptionalen Kosmos des Online-Dating eine verbreitete Form des Beziehungsabbruches. Man hat da jemanden kennengelernt. Ein Verveine-Tee in entspannter Atmosphäre. Es hat vielleicht ein bisschen geknistert. Die innige Umarmung zum Schluss hat die obligate 4 Sekunden-Marke geknackt. Nichtsdestotrotz bleibt die lang ersehnte Antwort auf WhatsApp aus. Im schlimmsten Fall sogar geblockt. Im Nu zum Geist erklärt. Irrelevant. Ein Windhauch, dem keine Beachtung mehr geschenkt wird. Gerade Schweigen kann in Beziehungen zu einem Störfaktor werden. Es wird als belastend empfunden, wenn jemandem die Beachtung entzogen wird. In diesem Zusammenhang spricht Thomas Bernhard von einer gehemmt-aggressiven Stummheit und kann sogar einen Terror des Schweigens beobachten. Schweigen als Aufkündigung einer Beziehung hat seine Ursache oft in einer erlittenen Kränkung und entfacht so eine Kränkungs-Spirale. Diese unheilvolle Dynamik kann dann sogar in pure Gewalt ausarten. So erzählt Haller von einer Ehefrau, die in sachlicher Nüchternheit erklärt, dass sie ihren Mann getötet habe, weil dieser den Dialog verweigerte und sie angeschwiegen habe.

Es gibt auch das Phänomen der demonstrativen Unzufriedenheit. Eine plakativ zur Schau gestellte Verdrossenheit, welche wie ein Schosshund an den Fersen haftet und alle umgebenden Personen mit einer schuldbehafteten Aura parfümiert. Oder der oft gehörte Satz: Ich spreche fliessend sarkastisch. Beissend-bitterer Zynismus ist oft ein versteckter Hinweis auf innere Aggressionspotentiale. Zynische Personen offenbaren eine tiefe Unversöhnlichkeit mit dem Leben. Und das Engagement zum Aufbau vertrauensbasierter Beziehungen ist so erschwert. Alles in allem gibt es viele Negativ-Phänomene, welche einen Mangel an wertschätzender Zuwendung aufweisen. Kleine Kränkungen sind wie Nadelstiche und haben das Vermögen eine Person zu traumatisieren. Um zu verbluten bedarf es nicht einer riesigen Wunde, kleine und unscheinbare Einschnitte können ebenfalls eine verheerende Wirkung zeitigen. Die Erfahrung, dass niemand das Doppelzimmer mit ihm teilen will, kann sich als einschneidendes Moment in der Biographie eines Amokläufers erweisen. Das von Prof. Dr. Haller gehaltene Plädoyer regt zum Denken an. Hoffentlich aber auch zum Handeln. Eine sanfte Geste der Hochachtung genügt, um das Leben eines Mitmenschen nachhaltig zu bereichern.

Bildquellen

  • Wertschätzung: © Gian Rudin
Mural in Arlesheim BL
28. November 2021 | 23:28
von Gian Rudin
Lesezeit: ca. 3 Min.
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