Lange Zeit für die katholische Kirche ein Gräuel: nackte Haut.  © Walter Ludin
Walter Ludin

Verklemmt

Vor einigen Monaten hat in den USA ein Paar an einer Trockenwand in einer Garage gearbeitet, als die Frau ihr Oberkleid auszog. Die 27-Jährige wollte dieses schützen. Dann aber seien Kinder des Mannes dazugekommen, die beiden sind neun und dreizehn Jahre alt. Sie hätten ihre Stiefmutter mit blossen Brüsten gesehen, erzählten sie ihrer biologischen Mutter – die den Fall bei der Polizei anzeigte. Die Stiefmutter wurde wegen eines Sexualverbrechens (!) angeklagt. Und hätte im Falle einer Verurteilung als lange Zeit als «Sexualtäterin» gegolten. Immerhin hat man sich vor Gericht auf eine gütliche Regelung geeinigt. Wie es in der Pressemeldung weiter hiess, wurde der Mann, der auch «oben ohne» war, nicht angeklagt.

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Ich nehme diese Meldung zum Anlass, mich an die guten alten verklemmten Zeiten zu erinnern. Ein erstes Beispiel:

«Bei Personen des anderen Geschlechts unehrbare Teile anschauen ist Todsünde …»: So heisst es im Standardwerk der katholischen Moraltheologie von Herbert Jone (ich muss leider hinzufügen, dass er ein Kapuziner war …). Das Buch wurde 1964 zum letzten Mal aufgelegt.

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Und ich erinnere mich: Anfang der 1970er-Jahre beklagte sich ein Afrikamissionar (kein Kapuziner!) in einem Gespräch mit mir, dass es leider Moraltheologen gäbe, die leugneten, dass alle Vergehen im Bereich «de sexto» schwer Sünden seien. Eine solche «Moral» hat er in Afrika verbreitet …

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Ein anderer Afrikamissionar rühmte sich, dass er in den 1950er-Jahren Wolle aus der Heimat kommen liess und Ordensschwestern dazu brachte, die «N…innen» stricken zu lernen, damit diese sich «anständig» kleiden konnten. Man stelle sich vor, wie angenehm es war, bei mehr als 35 Grad schwüler Hitze kratzende Wollsachen auf der nackten Haut zu tragen.

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Noch eine Erinnerung: Als ich in Sursee LU Anfang der 1960er-Jahre im Gymnasium war, hat die Stadt über ein Strandbad abgestimmt. Ein Priester warnte auf der Kanzel am Sonntag vor dem «gemischten Bad». Wer dafür stimme, mache sich schwer schuldig.

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Auch von einem anderen Priester erzählte man damals, er habe gegen diese Bäder gepredigt. Mit grossem Erfolg: Am andern Tag ging niemand ins Strandbad. Es war Februar …

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Erst mit dem Konzil und in der Schweiz dank der Synode 72 entwickelte sich auch in der katholischen Kirche ein unverkrampfteres Verhältnis zum menschlichen Körper mit weniger Prüderie. Darf ich dazu einen eigenen Aphorismus anfügen:
Wer noch nie beim Anblick eines schönen Körpers Gott gedankt hat, ist entweder verklemmt oder ungläubig.

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Zum Schluss noch ein Beispiel aus früheren Zeiten: Priester im St. Galler Rheintal wetterten von der Kanzel aus gegen die «verderbte» Frauenmode mit den ärmellosen Oberteilen – und schwiegen zur Tatsache, dass vor den Kirchentüren unzählige Juden wieder zurück über die Grenze geschoben wurden, wo der Tod im KZ auf sie wartete …

Lange Zeit für die katholische Kirche ein Gräuel: nackte Haut. © Walter Ludin
10. März 2020 | 10:03
von Walter Ludin
Lesezeit: ca. 2 Min.
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