Venedig wie aus dem Bilderbuch
Celia Gomez

Venedig: Wo das «Ghetto» entstand

Malerisch, romantisch und idyllisch – drei Worte, welche die Stadt Venedig hervorragend beschreiben. Millionen von Touristen aus aller Welt werden von der Stadt auf dem Wasser angezogen. Die TouristInnen tummeln sich auf der Piazza San Marco, der Rialto-Brücke, lassen sich auf Gondeln herumfahren und besuchen die Insel Murano um das Handwerk des Glasblasens zu bewundern.
Aus dieser Stadt stammt der Begriff «Ghetto», der heute v.a. als Bezeichnung für ein Viertel, in dem (ausschliesslich) Juden und Jüdinnen leben, jedoch hat der Begriff eine abwertende Komponente.

Blick in die Vergangenheit

Im Mittelalter waren die Juden als brillante Geschäftsleute eine starke Konkurrenz für die Venezianer. Im 14. Jh. wurde ihnen aus diesem Grung der Aufenthalt in Venedig verboten und die jüdische Bevölkerung war gezwungen, sich nach Mestre aufs Festland zurückzuziehen. 1516 wurde dieses Verbot wieder aufgehoben und die Juden und Jüdinnen kehrten in die Stadt zurück, mussten aber in einem ihnen zugewiesenen Stadtteil leben. Zu Beginn handelte es sich nur um ein paar Gassen (il ghetto vecchio), als der Platz aber knapp wurde, kam das neue Ghetto hinzu (il ghetto nuovo) auf einer Insel, auf der vorher eine Giesserei betrieben wurde.
Das italienische Wort getto bezeichnet die Gussarbeit oder die Giesserei. Die deutschsprachigen aschkenasischen Juden und Jüdinnen konnten das Wort jedoch nicht korrekt aussprechen und nannten es «cheto», worauf sich die Aschkenazim und VenezianerInnen im Verlaufe der Jahre auf «ghetto» einigten.
Die Bezeichnung Ghetto war somit ursprünglich ein neutraler Terminus für den Ort in Venedig, wo die jüdische Bevölkerung lebte. In anderen Städten Italiens wurde diese Bezeichnung übernommen, auch wenn jene Judenviertel älter waren als das Ghetto in Venedig, z.B. in Rom.
Da sich im venezianischen Ghetto ca. 5000 Juden und Jüdinnen niederlassen mussten, entstanden dort die höchsten Wohnhäuser Venedigs und in den Synagogen wurde die Bima (das Pult,von dem aus die Tora gelesen wird) ganz an die Wand gerückt, damit mehr Leute Platz nehmen konnten.
Abends wurden die Tore zum Ghetto geschlossen und durften erst wieder zum Tagesanbruch geöffnet werden. Während des Tages durfte sich die jüdische Bevölkerung Venedigs frei in der Stadt bewegen, für jedes Verlassen des Ghettos mussten sie jedoch einen Tribut zahlen. Berufe des Kaufmanns oder des Arztes waren den Juden untersagt, ebenso wie der offizielle Handel mit ChristInnen. Trotz dieser schikanierenden Regelungen herrschte in Venedig eine grössere Toleranz gegenüber der jüdischen Bevölkerung als in anderen Städten Europas. Die jüdische Dichterin Sara Coppio, die 1590–1641 in Venedig lebte, stand in reger Korrespondenz mit dem genuesischen Geistlichen Ansaldo Céba. Diese Kommunikation war ein wichtiger Beitrag zum Verständnis zwischen Juden und Christen.

«Ach Erde, bedecke mein Blut nicht!» (Hiob 16,18)

Der wirtschaftliche Niedergang Venedigs war besonders verhängnisvoll für die ohnehin schon stark eingeschränkten Juden und Jüdinnen. Im 17. Jh. lebten nur noch 500 Personen im Ghetto. Während des Zweiten Weltkriegs fielen 202 Juden und Jüdinnen dem Holocaust zum Opfer. Nach dem Sturtz Benito Mussolinis fielen grosse Teile Italiens an die Wehrmacht. Ca. 9000 italienische Juden und Jüdinnen wurden zwischen 1943 und 1944 nach Auschwitz deportiert.
Zum Gedenken der jüdischen VenezianerInnen wurden Bronzenreliefs von Arbit Blatas an einer Wand im Ghetto Nuovo eingelassen, welche die Leiden der Verfolgten zeigen: Zwangsarbeit, Deportation, Hinrichtungen und Massenvernichtung.

Jüdisches Leben in Venedig

Heute erinnert das Museo Ebraico di Venezia (Jüdisches Museum von Venedig) an das jüdische Leben der vergangenen Jahrhunderte. Die Synagogen, welche teilweise in den oberen Stockwerken der Häuser sind, können mit einer geführten Tour besichtigt werden. Die Gotteshäuser werden nur noch selten gebraucht, meist nur zu Festtagen wie Rosch Haschana (Neujahr), Sukkot (Laubhüttenfest) und Yom Kippur (Versöhnungstag).
Die RestauratorInnen des Museums leisteten ganze Arbeit, um die vielen rituellen Gegenstände zu säubern, polieren und ihre wunderschönen Reliefs wieder zum Vorschein zu bringen. Fotografien zeigen Eindrücke von Hochzeiten und anderen Festlichkeiten, die in Venedig stattgefunden haben.
Nur noch 20 von ca. 400 Juden und Jüdinnen im Raum Venedig leben heute noch im Ghetto. Die Stadt wird für viele VenezianerInnen zu teuer, die meisten ziehen nach Mestre aufs Festland und pendeln über die Brücke auf der Via della Libertà (Strasse der Freiheit) nach Venedig.

Venedig wie aus dem Bilderbuch | © pixabay.com CC0
12. Dezember 2016 | 21:18
von Celia Gomez
Lesezeit: ca. 3 Min.
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