Alltagsleben: Khajuraho, Indien
George Francis Xavier

Ungewöhnlich, aber schön und verdient...

«Mama, ich liebe dich». Ein Sohn schaut auf das Gesicht seiner Mutter und erklärt ihr, warum er sie immer mehr liebt – ein öffentlicher Ausdruck der Liebe und Dankbarkeit vor rund dreissig Gästen. Ich war Zeuge einer Abfolge von Liebes- und Dankbarkeitsbezeugungen an der Geburtstagsfeier dieser Mutter. Ihr Ehemann umarmte und küsste sie, begleitend mit Worten der Liebe, um auszudrücken, wie sehr er sie liebte und wie tief er ihr dankbar war. Ein anderer Gast trat vor und las einen vierseitigen Reim

Erinnerung an eine Geburtstagsfeier: |© GFX 2018
Ich mit einem Kollegen während der oben genannten Geburtstagsfeier.

, der von ihrer Schwester für sie geschrieben wurde, und der alles erzählte, was in ihrem Leben geschehen war. Ein anderer las ein Gedicht vor und lobte alles, was sie anderen Gutes getan hatte. Eine weitere sang ein Lied, begleitet von einer Schweizerorgel. Und der Text handelt von ihr als «Königin» – the dancing queen.

Dies ist eine beglückende Kultur, in der die Liebe und der Dank ausgedrückt werden, anstatt sie im Herzen zurückzudrängen. Die Gefühle des Herzens anderen Menschen gegenüber zu zeigen, ist für mich nicht üblich. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern mich umarmten oder ich sie umarmte. Ich habe nie gesehen, wie meine Freunde oder Verwandten bei einer Feier öffentlich sagten, dass sie jemanden liebten. Ich will sag

Gott Vishnu mit seiner Gemahlin Lakshmi im Parasvanath-Tempel in Khajuraho; Indien |© GFX 2015
(Während jetzt in Indien die Inder hinsichtlich des Ausdrucks der Zuneigung sehr zurückhaltend sind, sprechen die alten Tempel mit ihren Skulpturen einen anderen Ton. Der «Tempel der Liebe» in Khajuraho ist ein Beispiel dafür.)

en, ein öffentlicher Ausdruck der Liebe ist in der indischen Kultur ungewöhnlich.

 

Der öffentliche Ausdruck der Liebe ist in Indien so etwas wie ein Verbrechen. Aber in Bollywood-Filmen kommen Küsse, Umarmungen und Liebesbekundungen häufig vor. Und dann, wenn es in der Familie geschieht, sind verschiedene Kommentare zu hören:  «Dont be filmy at home». Das bedeutet nicht, dass wir in Indien von Natur aus nicht warmherzig und zärtlich sind, aber es ist einfach so, dass wir uns unwohl fühlen, wenn wir unsere Gefühle in Worte und Gesten übersetzen.

 

Als ich diesmal die Tränen der Freude in den Augen der erwähnten Mutter sah, dachte ich, dass es nicht falsch sei, Liebe und Zuneigung, Dankbarkeit und Fürsorge anderen gegenüber auszudrücken. Es gibt keine zwingenden Gründe, dies nicht zu tun. Es ist eine Bestätigung für diejenigen, die es verdienen.

 

NB: Es ist für Inder in Ordnung, in der Öffentlichkeit zu «pinkeln», aber es gilt als unschicklich, sich in der Öffentlichkeit zu «küssen» und zu «umarmen».

Alltagsleben: Khajuraho, Indien|© GFX 2015
(In Bezug auf die Bedeutung und den Zweck dieser Skulpturen im Tempel gibt es unterschiedliche Überzeugungen. Aber viele Gelehrte sind sich einig, dass die Tempelskulpturen den Alltag der Menschen dieser Zeit repräsentieren. Hier sehen wir Krieger, Tänzer, Musiker und Szenen eines königlichen Hofes, eines Lehrers und eines Schülers sowie eines Bildhauers mit seinen Schülern.)

Bildquellen

  • Erinnerung an eine Geburtstagsfeier: |© GFX 2018 Ich mit einem Kollegen während der oben genannten Geburtstagsfeier.: Bildrechte beim Autor
  • Gott Vishnu mit seiner Gemahlin Lakshmi im Parasvanath-Tempel in Khajuraho; Indien |© GFX 2015 (Während jetzt in Indien die Inder hinsichtlich des Ausdrucks der Zuneigung sehr zurückhaltend sind, sprechen die alten Tempel mit ihren Skulpturen einen anderen Ton. Der «Tempel der Liebe» in Khajuraho ist ein Beispiel dafür.): Bildrechte beim Autor
Alltagsleben: Khajuraho, Indien|© GFX 2015 (In Bezug auf die Bedeutung und den Zweck dieser Skulpturen im Tempel gibt es unterschiedliche Überzeugungen. Aber viele Gelehrte sind sich einig, dass die Tempelskulpturen den Alltag der Menschen dieser Zeit repräsentieren. Hier sehen wir Krieger, Tänzer, Musiker und Szenen eines königlichen Hofes, eines Lehrers und eines Schülers sowie eines Bildhauers mit seinen Schülern.)
6. November 2018 | 23:43
von George Francis Xavier
Lesezeit: ca. 2 Min.
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