Karin Reinmüller

Tarnnetze

Dieses Bild hat mich erschreckt. Es zeigt die Kapelle der Dominikanerinnen von Bethanien in Riga, in der ich bis vor wenigen Wochen täglich mehrmals gebetet habe. In diesen Tagen wurde sie anders genutzt: Freiwillige haben dort Tarnnetze geknüpft, die an die ukrainische Armee geschickt werden sollen.

In Lettland ist die Solidarität mit der Ukraine, soweit das möglich ist, noch grösser als sonstwo in Europa. Die Lett:innen teilen mit der Ukraine die Geschichte, unfreiwillig Teil der Sowjetunion gewesen zu sein – sie galten als unzuverlässig, ihre Kultur wurde unterdrückt, mehr als 5% der Bevölkerung in die Gulags geschickt. Und sie sind sich sehr darüber im Klaren, dass Putin das Baltikum, einschliesslich Lettlands, liebend gern in sein Reich hinein «befreien» würde und wird, wenn er die Gelegenheit dazu gekommen sieht.

Deshalb basteln sie Tarnnetze. Und ich ertappe mich dabei, zu hoffen, dass die Soldat:innen in der Ukraine professionell genug ausgerüstet sind, dass sie diese Netze wohl als psychologische Unterstützung gebrauchen können – aber sich nicht tatsächlich darunter verstecken müssen. Fange ich an, auf militärischen Erfolg zu hoffen? In einem Krieg, den ich als aussichtslos einschätze, und obwohl ich diese Gewalt für keine Lösung halte?

Es erschreckt mich, wenn ich von der neuen Tradition in der Ukraine lese, wonach das ganze Dorf den Leichnam eines gefallenen Soldaten auf Knien «begrüsst». Dabei war dieser Soldat vielleicht einer, der lieber geflohen wäre – aber man hat ihn nicht gelassen. So wird Heldentum erzwungen.

Und jetzt stehen sie in meiner Kapelle und knüpfen Tarnnetze. Dort, wo ich Gott gesucht und ihn manchmal gefunden habe, arbeiten sie daran, den Menschen zu helfen, die der Gewalt Putins eigene Gewalt entgegensetzen, so gut sie das können – freiwillig, oder weil sie einfach im richtigen Alter und am falschen Ort sind. Es fühlt sich an, als ob sie etwas Heiliges zerstören.

Dabei tun sie das gar nicht. Sie machen lediglich ziemlich effizient meinen Versuch zunichte, in einer Parallelwelt zu leben, in der es diesen Krieg nicht gibt. Ich würde ihn mir zu gern aus dem Kopf halten, oder jedenfalls in sicherer Distanz. Weil er mir zu viele Fragen aufwirft, die ich nicht beantworten kann, nicht einmal mir selber. Gibt es eine Alternative zur Selbstverteidigung mit Gewalt? Wenn in dieser Situation niemand schiesst – was würde Putin stoppen?

Ich habe keine Antworten. Und ich versuche, mir klarzumachen, dass Gott unsere Kapelle nicht verlassen hat. Dass er die Realität noch nie verlassen hat. Weil das nicht sein Stil ist. Und dass meine Aufgabe ist, in dieser Realität zu leben – weil ich sonst Gott verlassen würde.

Bild: Dominikanerinnen von Bethanien, Riga
2. April 2022 | 21:22
von Karin Reinmüller
Lesezeit: ca. 2 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!

Ein Gedanke zu „Tarnnetze

  • Sr.Diana OP sagt:

    Liebe Karin,
    ich bin geboren und erwachsen geworden in Sowjetische Republic Lettland. Ich bin von sowjetische Regierung “befreit” von meine Sprache, Kultur, Geschichte und Recht an einem Gott zu glauben. Ich musste in eine Jugendorganisation “Pionieren” eintreten, weil ich möchte in Gimnasium lernen. Bis 1991 habe ich in eine Kirche nur heimlich besucht.Ich bin in lettische Freiheitsrevolution teilgenommen und auf Barikaden gestanden.Und doch heute bin ich eine Dominkanerinn, seit 22 Jahre.Gott hat mich nicht verlassen in einem gotlosem Land.Wie Du schreibst- Gott verlässt die Realität nie. Nur wir, Meschen tun das manchmal. Auf dem Bild Du kannst sehen drei Leute aus Ukraine, eine Frau aus Lettland und ein Junge aus Sonntagschule.An diesem Tag ich war viel unterwegs zwischen Flüchtligszentrum in Riga und unserem Kloster. Ich habe geholfen die erste Hilfe bekommen- Kleidungen, Schuhe, Schulsachen für Kinder, usw. Wenn ich kam in Kapella, die Leute arbeiteten da in tiefe Stille- es war ein Gebet.Es war ein anderes Kreuzweg. Es war leise Hoffnung, das die Netze helfen Leben retten.Du hast Recht – wie weit ich weiss, die selbstgemachte Netze werden grossteils anders benützt. Aus Lettland nach Ukraine werden Busse und Jeeps geschickt, um die Leute, die versuchen okupierte Teritoriums zu Fuß verlassen, aufzufangen und in sicherheit bringen. Dieselbe, versteckte Autos versuchen humanitäre Hilfe nach Mariopol bringen. Die Leute machen das auf seine eigene Risiko. Wie sie wissen, trotz Gespräche, gab kein Waffenstillstand und humanitäre Koridore funktionierte wenig.Frau mit Kinder, die hat bei uns Schulsachen für Kinder bekommen, hat erzählt, das Putins Armee hat die Flüchtlinge näher gelassen und dann unter Füsse geschossen.Mein ganzes Leben wir haben unbereschenbare Nachbarn, Lettland hat Gränze mit Russland und Weißrussland.Wir haben zahlreiche Bedrohungen gehört. Aber so nah Krieg ist noch nie gewesen.Heute wir hatten Kontemplation, wo wir haben alle uns bekannte Kriegesopfer bei Namen gennannt, von beide Seiten.Ich schätze unsere Zugehörigkeit zu ES und NATO, aber mir ist auch bewusst, das Ukraine kämpft auch für mich.Ich helfe mit Gebet und einfache Arbeit. Und ich möchte hoffen, das keine versucht mich wieder von meinem Land, Sprache, Kultur und Glaubensfreiheit “befreien”.
    Sorry für Sprachfehler. Mit besste Grüsse aus Riga – Sr.Diana.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

Du kannst diese HTML-Tags und -Attribute verwenden:

<a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.