Karin Reinmüller

Sozial auffälliges Verhalten...

Als eine Bekannte mal den Gottesdienst in einer gut gefüllten Grossstadtkirche besuchte, enthielt der ein unerwartetes Feature: Auf einmal begann ein Mann, mit lautem Reden dem Prediger Konkurrenz zu machen. Und wie das so ist – die Anwesenden waren peinlich berührt, versuchten es mit Ignorieren, was rein gar nichts änderte. Schliesslich ging meine Bekannte, die keine Probleme hat, mit orignellen Menschen umzugehen, auf den Mann zu und begann in einer Ecke der Kirche ein Gespräch mit ihm. Er wurde ruhiger, die anderen Gottesdienstbesucherinnen weniger gestört, alles in Butter, könnte man meinen. Bis auf den bitterbösen Blick, den ihr der Priester beim Auszug zuwarf – der hatte offenbar null Verständnis dafür, dass sie den Mann nicht aus der Kirche geworfen hatte, in der er sich nicht benehmen konnte.

So ähnlich muss es gewesen sein, als eine ausländische Frau nicht aufhörte, hinter Jesus herzuschreien – die Geschichte steht im Matthäus-Evangelium im Kap. 15 ab Vers 21. Die Frau ist keine Jüdin und gehört also nicht zu den Menschen, mit denen Jesus und seine JüngerInnen zu tun haben. Sie sollte nicht da sein, und sie kann sich nicht benehmen, es ist störend und unangenehm, dass sie keine Ruhe gibt. Übrigens auch für Jesus, der erstmal die Methode «Ignorieren» versucht und ihr keine Antwort gibt. Wie zu erwarten ändert das rein gar nichts, also bleibt nur der von den JüngerInnen favorisierte Rauswurf oder das Gespräch, die Methode meiner Bekannten, für die sich Jesus schliesslich entscheidet. Und zu seiner Überraschung feststellt, dass die Frau nicht nur ein berechtigtes Anliegen hat, sondern sogar eines, in dem er ihr helfen kann.

Wie wäre es, wenn das Gespräch mit Menschen, die stören, nicht allein den sozial Hochbegabten vorbehalten wäre? Wenn fast jeder Mensch ein bisschen neugierig werden würde, wenn jemand anderes anfängt, hinter ihm herzuschreien? Sich umdrehen würde und schauen, wer das so ist und ob es spannend sein könnte, mir der zu reden? Es könnte sich lohnen, das in der Schule zu lernen: Wie gehe ich vernünftig, ohne zu viel Angst, mit Menschen um, deren Sozialverhalten den Rahmen sprengt, den ich mir gewohnt bin?

Und solange der Staat das noch nicht macht, können doch wir Kirchenmenschen damit anfangen. In der gleichen Grossstadtkirche, in der meine Bekannte war, sass ich auch mal im Gottesdienst, als eine Frau anfing, die Predigt lautstark zu bereichern. Einmal rief sie «Der Jesus lebt!» Der Prediger antwortete ihr «Ja, er lebt! Und deshalb…» Der Rest seiner Argumentation ist mir nicht im Gedächtnis geblieben, aber stattdessen, dass Jesus dort lebt, wo Menschen auch mal stören dürfen.

Bild: engin akyurt auf unsplash
17. August 2020 | 09:23
von Karin Reinmüller
Lesezeit: ca. 2 Min.
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Ein Gedanke zu „Sozial auffälliges Verhalten…

  • stadler karl sagt:

    “Und solange der Staat das noch nicht macht…” Der Staat wird das wahrscheinlich niemals können. Als ich Kind und Jugendlicher war, gab es in meiner Wohnortsumgebung einige “Originale”. In Wahrheit waren es alles Menschen, die ein sozial auffälliges und ein Stück weit auch deviantes Leben führten. Sie gestalteten auch manche Auftritte, die ein wenig auch zur Belustigung der Durchschnittsbevölkerung dienten. Dennoch wurden sie, auch wenn sie manchmal geneckt wurden, über weiteste Strecken von der Bevölkerung auf ihre Art sehr wohl anerkannt und respektiert, keineswegs verachtet. Und der Grossteil der Menschen wusste mit ihnen umzugehen, half ihnen auch immer wieder auf bescheidene Art, und wenn es nur ein kleiner pekuniärer Zustupf für ein Bier oder ein Most war.
    Heute ist solches seltener geworden. Entweder leben solche Menschen in der Anonymität einer Grossstadt oder es wird versucht, das stimmige Erscheinungsbild eines sozialen Umfeldes mittels institutionalisierten Massnahmen von solchen Farbtupfern freizuhalten.

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