Relevanz entsteht im Auge des Betrachters
Daniel Kosch

Realität und Relevanz

Projekte des (kirchlichen) Change-Managements werden meist mit einer Situations- und Umfeldanalyse eingeleitet. Die eigene Organisation wird auf Stärken und Schwächen, die Realität auf Chancen und Risiken hin befragt. In theologischer Sprache ist von den «Zeichen der Zeit» die Rede, auf die es zu achten gilt.

Wie entsteht meine Realität und was ich als relevant erachte?

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings: Was die Realitäten und Umweltbedingungen sind, die es zu beachten gilt, ist gar nicht so klar. Ich lese die NZZ, darin vor allem die Inlandberichterstattung, die Kommentare und das Feuilleton, daneben auch die Auslandberichterstattung. Nur überflogen wird der Sportteil, sehr selektiv lese ich den Wirtschaftsteil. Aufmerksam verfolge ich die Berichterstattung über alles was Kirche, Religion und Religionspolitik betrifft. Das prägt mein Bild von der Realität. Nicht erst, wer ganz andere Zeitungen liest, sondern schon, wer bei der Lektüre andere Akzente setzt, erhält ein anderes Bild von der Realität: Jemand liest vielleicht regelmässig die Beiträge über Forschung und Technik. Jemand anders verfolgt die wirtschaftlichen Entwicklungen in der Chemie-Branche oder interessiert sich vor allem für Afrika.

Die Welt von heute, der Kontext, der die Kirche und ihre Verkündigung Rechnung tragen muss, wenn sie sich den Vorwurf mangelnden Realitätsbezugs nicht gefallen lassen will, entsteht also immer im Auge des Betrachters. Sie besteht aus dem, was jemand (oder eine Organisation) als «relevant» betrachtet, weil es für sie einen Unterschied macht. Hinzu kommt, dass sich der Fokus verändert, wenn anderes relevant wird. So lese ich seit ein paar Jahren alles, was den Finanzausgleich in der Schweiz betrifft und seit ein paar Monaten sämtliche Beiträge über die Unternehmenssteuerreform III. Diese Entwicklungen machen für mich einen Unterschied. Denn die Lastenverteilung zwischen den Kantonen und die Kirchensteuerentwicklung sind in meiner Arbeit bei der RKZ Dauerbrenner.

Was heisst das für die Umfeldanalysen und den Realitätsbezug?

Es wäre es falsch, aus all dem zu folgern, Umfeldanalysen seien so subjektiv, dass sie kaum etwas bringen. Aber es ist wichtig, sich darauf zu verständigen, worauf der Blick gerichtet werden soll, und nachher zu fragen, welche konkreten Beobachtungen relevant sind, weil sie für das, worum es geht, einen Unterschied machen.

Not und Ungerechtigkeit sind nie irrelevant

Zudem sind Menschen oder Organisationen, die sich auf das Evangelium berufen, nicht einfach frei zu entscheiden, was sie im jeweiligen Umfeld als relevant erachten und berücksichtigen müssen. Denn unmissverständlich bestehen Jesus, viele biblische Texte und deshalb auch Papst Franziskus darauf, dass man hinschauen muss, wo Menschen in Not sind, und dass man an Ungerechtigkeit und bedrohtem Leben nicht achtlos vorbeigehen darf.

Relevanz entsteht im Auge des Betrachters | © Kosch, Daniel
25. August 2016 | 06:57
von Daniel Kosch
Lesezeit: ca. 2 Min.
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