Karin Reinmüller

Probehandeln – damit Kierkegaard nicht Recht hat

Nach einer kurzen Ferienpause gibt es mal wieder einen Predigt-inspirierten Artikel:

Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard schreibt in einer Parabel auf das Christentum von einer Wildgans, die die zahmen Gänse eines Bauernhofs besucht. Sie erzählt ihnen von der grossen Weite, die sie kennt, von den Flügen der Wildgänse, die sie über tausende von Kilometer führen – um sie dazu zu inspirieren, ebenfalls zu fliegen. Die zahmen Gänse hören ihr begeistert zu. Wenn Sie das Ende der Parabel noch nicht kennen, warten Sie bitte noch etwas…

Die Geschichte von Petrus im Matthäus-Evangelium, Kap. 14, Verse 22-33), der es riskiert, wie Jesus auf dem Wasser zu gehen, gehört zu denen, die gerne in Exerzitien verwendet wird – was übrigens nichts mit Exorzismus zu tun hat, sondern auf neudeutsch ein Retreat genannt wird, einige Tage intensiver Meditation, in denen nicht zuletzt mit Vorstellungsübungen gearbeitet wird. Und so bin ich selbst schon in meiner Vorstellung auf dem Rand dieses Bootes gesessen, Jesus steht mir gegenüber auf dem Wasser, einladend, ich strecke vorsichtig einen Fuss ins Wasser, der gleitet einfach hinein, ganz klar, da lässt sich nicht drauf stehen. An diesem Tag war auch in der Imagination kein Gehen auf dem Wasser angesagt.

Dabei ist die Geschichte eine einzige Einladung, sie führt durch eine solch gewaltige Bandbreite menschlicher Gefühle, dass sich an irgendeiner Stelle fast jede wiederfinden kann: Es geht los mit dem Gegenwind, mit dem die Freunde Jesu (und sicher auch Freundinnen) zu kämpfen haben. Mühsal, Anstrengung. Dann taucht Jesus auf und wird zunächst für ein Gespenst gehalten, weil er auf dem Wasser geht – Erschrecken und Angst, dann das Wiedererkennen – Beruhigung, Geborgenheit, Sicherheit. Und dann die Herausforderung, der Mut zum Risiko, der Petrus aus dem Boot steigen lässt. Vermutlich Stolz, etwas geschafft zu haben, Freude. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende und die Gefühle gehen weiter: Petrus verliert den Blick auf Jesus, sondern sieht die gefährlichen Wellen und beginnt, unterzugehen – Todesangst. Er ruft nach Rettung, und erfährt sie. Kann sein, dass er sich beschämt fühlt, wo Jesus ihn auch noch tadelt. Die im Boot zurückgebliebenen Jünger sind am Ende jedenfalls nur noch überwältigt.

Matthäus, der an anderen Stellen auch sehr trocken schreiben kann, zieht hier alle emotionalen Register mit dem Ziel, seine HörerInnen, uns, in diese Szene hineinzuziehen. Irgendwo bin ich und sind Sie da drin, vielleicht wissen Sie schon, wo. Und wenn Sie mal drin sind ist es wie mit einem guten Film: Irgendwann stehen Sie selber da, wie der Held, Petrus, und fragen sich – will ich da raus? Kann ich da raus, aufs Wasser? Was kann und will ich riskieren?

Das Grossartige an der Beschäftigung mit solchen Geschichten ist, dass Sören Kirkegaard mit dem Schluss seiner Gänse-Parabel nicht recht haben muss. Dort hören sich die zahmen Gänse immer wieder an, was ihnen über die Wildgänse berichtet wird, sie finden es toll, was ihnen erzählt wird – aber sie versuchen nie, selbst zu fliegen, weil das Leben auf dem Hof doch sehr bequem ist. So hat Kierkegaard das Christentum gesehen, aber so wirkt eine biblische Geschichte nicht (übrigens auch andere Erzählungen nicht), wenn ich mich drauf einlasse. Wer sich als Petrus mal aufs Wasser getraut hat, wer in der Vorstellung erlebt hat, wie sie sich zu viel zugetraut hat, fast untergegangen wäre, und es doch gut ausgegangen ist – die oder der kann sich auch in der Realität anders verhalten. Sich vielleicht getrauen, zu widersprechen, wo sie sonst geschwiegen hätte. Schritte wagen, um Beziehungen zu gestalten, die zu Veränderung führen. Oder etwas Neues anfangen, von dem nicht klar ist, ob es gelingen wird.

Das psychologische Stichwort dafür heisst «Probehandeln» und lässt sich nachlesen, es geht aber um mehr als Psychologie: Wir können heute nicht mehr greifen, was sich auf dem See Genezareth tatsächlich abgespielt hat. Aber wir wissen, Matthäus schreibt uns aus zweitausend Jahren Entfernung zu, was er erfahren hat: Dass Jesus einer ist, der mich einlädt, etwas zu riskieren, und auf den Verlass ist, wenn ich mir zu viel zutraue. So können wir lernen, zu handeln. Machen Sie gerne mal die Probe.

9. August 2020 | 19:09
von Karin Reinmüller
Lesezeit: ca. 3 Min.
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