Unser Marsch in die Bedeutungslosigkeit

(Vorbemerkung: Eigentlich habe/hätte ich immer noch Lust, ein ganzes Buch zum Thema «Anatomie eines Niedergangs» zu schreiben, in dem ich die Geschichte unserer Kirche von dem Zeitpunkt, als sie unter Konstantin in Europa zur dominanten Religion wurde, bis zum 21.Jahrhundert Revue passieren lasse und die Frage aufwerfe, wo und wann die Weichen falsch gestellt wurden. Aber dazu brauchte ich einen Verlag, der bereit wäre, das finanzielle Risiko auf sich zu nehmen. Noch habe ich weder eine Idee noch habe ich Helfer gefunden. So bleibt es zunächst bei diesem eher mickrigen Text, der nur die Zeit ins Auge nimmt, die ich selber physisch erlebt habe.)

Ich erinnere mich an das «alte St.Gallen», wie ich es nennen möchte. Da ist zum einen der Kanton, in dem die CVP damals sogar über einige Zeit eine absolute Mehrheit im Grossen Rat, der Legislative, hatte. Diese CVP hatte zwei Flügel, den christlich-sozialen und den katholisch-konservativen, das verbindende Element aber war die Zugehörigkeit zur selben Konfession. Diese Partei war quasi auch das Sprachrohr der Kirche; «Abtrünnige», die sich in anderen Parteien engagierten (man denke als prominente Beispiele an Franz Jäger und den späteren Ständerat Paul Rechsteiner), wurden misstrauisch beäugt. Zum andern war da die Stadt, meine Heimatstadt mit ihrem evangelischen Zentrum, in dessen Mitte dann aber wieder die Kathedrale/das Kloster lag, und den zahlenmässig grösseren katholischen Quartieren ringsherum. Der Fronleichnamstag mit dem grossen Gottesdienst auf dem Klosterplatz, zu dem die Pfarreien aus Ost und West pilgerten (und wo an den Toren zur Innenstadt die Bratwürste brutzelten) war wohl der Höhepunkt des Jahres.

Ich will aber auch nicht idealisieren. Etliche der katholischen Machtpolitiker waren auch problematische Gestalten, etwa Ständerat Jakob Schönenberger, der die Geschichte des Iddaheims zu verantworten hat. Auch die enge Bindung von Kirche und Armee, wie sie von Feldpredigern wie Domdekan Paul Schneider einerseits und von Offizieren wie Brigadier Kurt Furgler andrerseits zelebriert wurde, war problematisch. Da landete man bald einmal im Gefängnis oder zumindest in der linken Gesinnungsecke. Auch dass der Obermesmer des Doms als CVP-Gemeinderat gegen die Unmoral und Un-Ästhetik im neu gebauten Theater wetterte, verdient Erwähnung. (Da war ich als arroganter kritischer Gymnasiast, zudem Arbeitersohn aus dem katholischen Milieu, äusserst suspekt!)

Aber: Wir, die Kirche, die Pfarreien, das Bistum, wir hatten etwas zu sagen, wir wurden ernstgenommen. Noch als in der Endphase dieser Epoche Bischof Ivo Fürer jeweils zum grossen Neujahrs-Apéro lud, kamen alle, die eidgenössischen Parlamentarier, die Regierungen der Stadt und des Kantons, und das «eigene» Personal. Und die Reden, die dort gehalten wurden, hatten Niveau und zeigten häufig auch Wege zur Lösung gewichtiger gesellschaftlicher Probleme. (Um nochmals persönlich zu werden: in der Zeit war auch ich dabei, etwa als Mitglied des Stiftungsrates der städtischen Drogenhilfe, später in der Agglomeration als Mitglied der Jugend- und Friedhofkommission.)

Und nun – nicht selbst verschuldet bei den Faktoren multikulturelle Gesellschaft und Diversifizierung der Lebensstile, aber selbst verschuldet durch unsere Haltung in Fragen der Sexualmoral und Ämtertheologie – sind wir in kurzer Zeit bedeutungslos geworden. Bis auf wenige charismatische Persönlichkeiten hört unseren Bischöfen, unseren Seelsorgern/innen niemand mehr zu, ja wir stehen unter Generalverdacht.

Das Wort «bedeutungslos» hat zwei Komponenten: Krise und Chance.

Heinz Angehrn

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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