Nach der Erkenntnis

Mit meinem letzten Eintrag hier (vom 8.Juni!) zum von Kardinal Marx angebotenen (und inzwischen vom Papst zurückgewiesenen) Rücktritt von seinem Posten als Erzbischof von München ist schon viel Zeit vergangen, auch ganz viel Wasser unseren Talfluss Brenno hinuntergeflossen. In dieser Zeit hat etwa der Churer Bischof sowohl der NZZ wie dem Tagesanzeiger viel beachtete Interviews gegeben und sich auch zu den Fragen geäussert, die ich in meinem Beitrag angesprochen habe.

Versuchen wir deshalb etwas zu sortieren:

a) Ganz offensichtlich ist das Konzept des Pflichtzölibats für die Weltgeistlichen in den ganzen gesellschaftlichen Umbrüchen des 20.Jahrhunderts endgültig gescheitert (wenn es denn bei der Einführung im frühen Mittelalter überhaupt je im logischen und moralischen Sinn mehrheitsfähig war), will heissen, Sinn und Verständnis dafür sind heute ausserhalb eines ganz engen Zirkels konservativ-traditionalistischer Katholiken/innen nicht mehr vorhanden.
Allerdings sind die finanziell-materiellen Gründe, die am Anfang wohl entscheidend waren, in Gesellschaften mit Altersrenten auch nicht mehr vermittelbar. Die Gefahr, dass ein Weltgeistlicher allfälligen Kindern Kirchenvermögen vermacht, ebenso wenig!

b) Asexualität um des Himmelreiches willen, wen wir diesem fallierten Konzept einen anderen, einen theologischen Sinn geben wollen, kann kaum vor dem neutestamentlichen Befund bestehen. In den radikalen jesuanischen Forderungen ging und geht es nie um gelebte oder nicht gelebte Sexualität, sondern um den Aspekt, dass ein/e Jünger/in Jesu sich nicht an die vergängliche Welt binden soll, sich nicht mit Besitz und Reichtum belasten soll, sich um der Zuwendung an die Bedrängten und Randständigen willen nicht an einen andern Menschen binden soll.
Erst mit dem strengen Dualismus zwischen Materie und Geist, zwischen Körper und Seele, der mit dem bekehrten Wüstling Augustinus in die christliche Theologie eingedrungen ist, quasi das vernichtende Urteil der jungen aufstrebenden Religion gegenüber dem zerfallenden dekadenten Imperium, kam es wohl zur Abwertung der Sexualität per se. Dass nun der Churer Bischof offen fordert, «mit dieser Prüderie» aufzuhören, ist ein weiteres Indiz, dass sich auch der geistige Hintergrund des Konzepts nicht mehr halten lässt.

c) Interessanterweise war es dann ja gerade Johannes Paul II., der mit dem Konzept einer «Theologie des Leibes» schon in den 80er Jahren die erwähnte Prüderie aufzubrechen versuchte. Noch war es natürlich der bescheidene Ansatz, die positiv gewertete heterosexuelle Sexualität und das kirchliche Konzept der abgelehnten künstlichen Empfängnisverhütung irgendwie in Einklang zu bringen (man/frau lese dazu unsere SKZ-Ausgabe 12/2021 zum Thema), doch der entscheidende Schritt war erfolgt.
Inzwischen ist die Sicht ausgeweitet auf hetero- und homosexuelle Sexualität, inzwischen ist auch klar, dass christlich-theologisch gesprochen Sexualität in einer stabilen Beziehung, die auf Treue, Dauer und Ehrlichkeit beruht, Anteilnahme an der Schöpferliebe Gottes bedeutet, ja deren Konkretion im Alltag ist. Der «Feind», wenn wir so sprechen wollen, ist für eine Schöpfungstheologie nicht gelebte Sexualität, sondern der promiske menschenverachtende Umgang mit der reinen Ware des weiblichen und männlichen Körpers.

d) Schlimm genug darum, dass im vergangenen Jahrhundert gerade das sinnlose Beharren auf dem Pflichtzölibat Kleriker in grosser Zahl in die Welten der Prostitution, der Promiskuität und der nicht übernommenen Verantwortung Frauen und Kindern gegenüber (man/frau lese die erschreckenden Erfahrungsberichte, die die ZöFra dazu gesammelt hat) getrieben hat. Die Conclusio lässt sich nicht vermeiden, dass man (diesmal nicht auch frau) mit einer früheren Aufhebung der Zölibatsverpflichtung zwar nicht unbedingt ein gewaltiges Ansteigen der Priesterberufungen, aber eine Reduktion solcher Missstände erreicht hätte.

e) Es geht nicht um Anpassung an den billigen Zeitgeist, es geht schon gar nicht um eine Übernahme der Werte einer «anything goes – Gesellschaft» (in dem Punkt, dass eine solche Gefahr besteht, gebe ich MG recht), es geht darum, die Grundwerte christlicher Ethik und Soziallehre auch in der eigenen Organisation umzusetzen. Menschenwürde auch beim Personal – bitte!

f) Und da die hier stattfindende Debatte in den Kommentaren der Fortsetzung wert ist, verlängere ich die Lebenszeit dieses Textes bewusst.

Heinz Angehrn

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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