Die angebotene Demission – ein Heilmittel?

«Verantwortung für die Vergangenheit übernehmen», das will der mächtigste katholische Würdenträger Deutschlands angesichts des «toten Punkts», an dem er seine Kirche angekommen sieht. Und er fragt sich in später Reue, ob er nicht auch durch sein Verhalten «negative Formen des Klerikalismus» befördert habe. Das alles kommt überraschend, aber auch irgendwie überraschend spät. Herr Marx hatte als Trierer Bischof bei meinen deutschen Kollegen den zweifelhaften Ruf, ein ruppiger Macho zu sein, der unbequeme Seelsorger abzukanzeln, ja ihnen auch gerne den dicken Rauch seiner Zigarren ins Gesicht zu blasen pflegte. Da war man noch Kleriker-Mann unter Gleichgesinnten, nicht so ein Weichei. Nichts von Synodalität, nichts von Kollegialität, nichts von geteilter Macht, so habe ich das damals bei unseren Treffen der City-Seelsorgenden in Mainz und Freiburg gehört. Nun man(n) kann ja dazulernen, man kann auch aufgrund von kritischen Rückfragen in Selbstzweifel kommen, man kann aber auch ganz einfach erkennen, dass es Fünf nach Zwölf ist (Martin Werlen schrieb kurzerhand «zu spät»), dass der «tote Punkt» überschritten ist, von dem an diese grosse geliebte Institution nicht nur in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit fällt, sondern in den definitiven Ruf der Sektenhaftigkeit zu geraten droht.

Ja, zusammen mit anderen frage ich Herrn Marx darum an, ob sein Verhalten adäquat und wirklich ehrlich ist. Wenn so ein mächtiger Mann (bei dem wir annehmen dürfen, dass er in der Missbrauchs-Thematik als Priester und Bischof persönlich immer sauber und integer war) von der «institutionellen Verantwortung» spricht, die er wesentlich mitträgt, auch von der Sorge, dass in der jetzigen Aufarbeitung die «systemischen Ursachen und Gefährdungen» ausgeklammert werden, dann ist diese angebotene Demission ein falscher, irgendwie auch feiger (Aus)Weg!

Wir alle (ich war während acht Jahren vorübergehend mehr als nur einfacher Ortspfarrer, sondern Dekan eines Stadtdekanats, ich sass darum in Gremien und Räten), die in den letzten vielen Jahrzehnten Verantwortung trugen, sind mitschuldig geworden, das ist uns wohl bewusst. Was haben wir als Institution etwa mit Eugen Drewermann und seinem Monumentalwerk «Kleriker» von 1989 getan? Nichts, wir haben es totgeschwiegen und verdrängt, der Verfasser aber wurde aus der Kirche hinausgetrieben. Aus Ereignissen des Jahres 1989 haben viele Politiker/innen und Staaten Folgerungen gezogen, haben dazugelernt, haben Strukturen verändert. Und wir, die Verantwortlichen unserer Kirche, haben nichts aus dem Buch gelernt, haben die Lehre und die Strukturen (Pflichtzölibat, Klerikerausbildung, Tabu-Thema Homosexualität) belassen. Die Panik kam erst viel später, wie die ersten Opfer sich endlich getrauten, auszusagen, wie die ersten Verhaftungen erfolgten. Und nun, wie im Jahre 2021 die ersten ganz alten Priester sich getrauen, ihre jahrzehntelangen Partnerinnen auch formell zu heiraten, da reiben wir uns die Augen.

Wie konnten wir nur so lange naiv hoffen, dass irgendwann Wunder geschehen, dass sich die Probleme in Luft auflösen? Wie konnten wir totschweigen, dass an die 80 Prozent dieser geweihten Männer ganz «normale» Männer, nicht asexuelle, sondern sexuell aktive Wesen sind, und dass es in diesem Klima der Verdrängung darum Ventile, krankhafte Kompensationen, ja eben auch schwer neurotisches Täterverhalten unter einer Decke des Schweigens und Wegsehens gab. Herr Marx (ebenso wie vor ihm Herr Ratzinger und wohl fast alle Bischöfe) hatte und hat Kenntnisse von Akten und Verfahren, von peinlichen Gesprächen, von Opfern und Tätern, aber eben auch – und das ist ausserhalb der Rücksicht auf jugendliche Opfer fast noch schlimmer – von Tausenden und Abertausenden von anständigen Priestern, die irgendeine Form von Doppelleben zu führen gezwungen waren. Und es noch heute – 2021 – tun!

Darum mein Fazit: Nein, lieber Herr Kardinal, nicht nach 25 Jahren im Amt eines Bischofs, so schleichen Sie nicht von der Bühne, noch meinend, der Sache einen Dienst erwiesen zu haben. Sie hatten Ihre Doktorarbeit unter dem Titel geschrieben «Ist Kirche anders – Möglichkeiten und Grenzen einer soziologischen Betrachtungsweise». Ja und nun? Stellen Sie Sich der Verantwortung coram publico.

Heinz Angehrn

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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