Nein danke, ich kann selber denken

Es geht nicht anders, und es mag Euch/Sie ärgern, aber ich muss meine Gedanken zum in der jetzigen gesellschaftlichen Situation notwendigen und not-wendenden zivilen Ungehorsam fortsetzen, jetzt aber in eigener Sprache und Philosophie.

(Beginnen wir mit Ironischem: Martin Grichting hat nach seinem Abgang eine eigene Homepage eröffnet, wo seine bisherigen Werke, auch Artikel in Zeitschriften und Festschriften, dokumentiert sind. Die HP stellt er unter folgendes Ebner-Eschenbach-Zitat: «Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Feinde der Freiheit». So sehr ich mit ihm im Dissens bezüglich der Bedeutung der direkten Demokratie für eine Zivilisierung des römischen Zentralismus bin, so sehr verbindet uns anscheinend und unheimlicherweise die Überzeugung von der inneren Wahrheit dieses Zitats.)

Warum tut mehr radikaler Liberalismus heute so not, so sehr wie lange nicht mehr? Weil da ein staatlich gesteuertes, ein vom die Freiheit und Menschenwürde des Individuums verachtenden Mainstream-Zentralismus angefeuertes, Monstrum heranwächst. Kant hatte einst aufgerufen, aus der selbstverschuldeten (!) Unmündigkeit aufzubrechen. Viele, längst nicht alle, haben dies seither gewagt. Manche Vertreter/innen von Wissenschaft und Politik (die neuen «Feinde der offenen Gesellschaft», auch «Volkstherapeuten» genannt) versuchen jetzt dem durch die Globalisierung und die Multikulti-Welt verunsicherten Menschen des 21.Jahrhunderts einzureden, dass es sich unmündig und vom Staat gesteuert besser leben lässt. Kant scheint vergessen, und der preussische Staatsphilosoph Hegel feiert Wiederauferstehung: Papa/Mama Staat als Synthese aller Weisheit weiss es eben doch besser.
(Man beachte auch die Werke von Byung-Chul Han, der aufzeigt, wie Liberalismus degenerieren kann: «Angesichts des Kommunikations- und Konformitätszwanges stellt der Idiotismus eine Praxis der Freiheit dar.» Han. Psychopolitik. Frankfurt 2014. S.109)

These dieser Staats-Gläubigen ist immer, dass sie besser als das Individuum wissen, was diesem wohl tut: etwa welche Sprache es «korrekt» sprechen soll; welche Werke es in welcher Übersetzung «korrekt» lesen bzw. anschauen soll; etwa wann und wo es eine Maske aufsetzen soll (= muss); den Hund an die Leine nehmen soll (= muss); was und wieviel es konsumieren soll und dergleichen mehr; eben: dass sie besser wissen, wie wir denken sollen. Umgekehrt weiss dieser Staats-Mainstream natürlich auch besser als das Individuum, was diesem schadet, und erlässt deshalb möglichst viele Regeln und Gesetze. Und leider gibt es sie, die von Ebner-Eschenbach zitierten «glücklichen Sklaven», Menschen, die geradezu froh sind, wenn sie nicht selber entscheiden müssen, die froh sind, wenn ihnen Staat und Wissenschaft das Denken abnehmen.

Einst trat die FDP mit dem Slogan an «Mehr Freiheit, weniger Staat». Damals geschah dies natürlich vor allem, um dem Raubtier-Kapitalismus möglichst wenig Fesseln anzulegen und der eigenen Klientel ihre Privilegien zu sichern. Da sich diese/r inzwischen in seiner/ihrer Untauglichkeit selber entlarvt hat, ist es an der Zeit, den Slogan wieder zu beleben: «Mehr Freiheit des Individuums, möglichst wenig staatliche Einschränkungen» (man vergleiche etwa das Doppelinterview der NZZ mit Laura Zimmermann und Nicolas Rimoldi am 13.04.). Ich fordere alle gesellschaftlichen Kräfte, die weiter an den Wert der Aufklärung glauben und nicht tief im Inneren auf eine Diktatur der Gleichgesinnten oder auf den Orwell’schen Überwachungsstaat hoffen, zum aktiven Widerstand auf. Der könnte etwa lauten:

1 Die Würde und Rechte des Individuums sind in jedem Fall höher zu gewichten als die Ansprüche der Gemeinschaft.
2 Ein freier Entscheid ist immer besser als ein aufgezwungenes Verhalten.
3 Wir sehen den/die Bürger/in als Erwachsenen, nicht als Kind, das am Gängelband gehalten werden muss.
4 Gedanken, anders als Taten, sind absolut frei. Jegliche Gedankenpolizei ist ethisch zutiefst verwerflich.
5 Wir leisten zivilen Ungehorsam, wo 1)-4) bedroht sind.

(Und kommen Sie/kommt mir nun nicht mit der klassischen Keule, ich hätte mich ja auch nicht immer so verhalten. Ich habe während 37 Oberstufen-Jahren meinen Schülern/innen immer den Satz mitgegeben: Man muss sich nicht an Regeln und Gesetze halten, weil es sie gibt, man muss sich an den Sinn, wofür sie stehen, halten. Ist dieser Sinn in einer konkreten Situation nicht gegeben, ist die Einhaltung obsolet.)

Heinz Angehrn

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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