Wozu braucht es die Kirche?

(Mein Wort zum Sonntag vom 26. April für Radio Central gibt es im Wortlaut ausnahmsweise erst heute. Es ist inzwischen noch aktueller!)

Ich verspreche es: Heute werde ich nicht über das Thema reden, über das alle reden – oder wenn, dann ganz am Rand.

Ich gehe heute auf eine Frage ein, die immer mehr Zeitgenossen stellen, nämlich: «Braucht es überhaupt eine Kirche?» Es fällt mir auf, dass immer häufiger zu hören ist: «Ohne Kirchen, ohne Religion würde die Welt besser, friedlicher aussehen.»

Ja, warum ist Kirche sinnvoll, ja notwendig? Zuerst die Gegenfrage: «Was wäre in Ihrer Gemeinde anders, wenn es die Kirche nicht gäbe?» Diese Frage können nur Sie beantworten. Und ich vermute, dass Sie dabei darauf stossen, dass es ohne Kirche weniger Gemeinschaft gäbe.

Es ist zwar nicht mehr wie in früheren Zeiten, die viele von uns noch erlebt haben. Wenn wir am Sonntag in die Messe gegangen sind, haben wir Menschen angetroffen, die man sonst nur selten gesehen hätte. Ich denke da an meinen Vater, einen Kleinbauern auf einem abgelegenen Hof. Wenn es den Sonntagsgottesdienst nicht gegeben hätte, wäre er fast nie unter die Leute gekommen.

Also: die Kirche schafft Gemeinschaft.  Sie tut es heute noch, wenn auch in anderer Form. Vor allem aber: Die Kirche leistet ihren Beitrag, dass die Welt menschlicher wird. Viele von euch kennen wohl das Wort des deutschen Schriftstellers Heinrich Böll, einem sehr gläubigen, aber auch kirchenkritischem Menschen.

Böll hat gestanden, dass er sogar die schlechteste christliche Welt der besten heidnischen vorziehen würde. Denn in einer christlichen Welt gibt es Platz für Behinderte und Kranke, Alte und Schwache, kurz: für die, wo nutzlos erscheinen. Und ich möchte zufügen: für die, wo bloss als Kostenfaktor erscheinen, weil sie zum Beispiel eine Altersrente bekommen oder unter grossem Aufwand medizinisch versorgt werden.

Vielleicht haben Sie festgestellt, dass Heinrich Böll nicht von der Kirche redet, mit der er so grosse Mühe gehabt hat. Er meint das Christentum. Aber es ist sicher: Ohne Kirche hätte der christliche Glaube nicht 2000 Jahre überlebt. Er wäre schon lange verdunstet.

Jetzt sind wir schon fast am Ende von diesem Sonntagwort. Und ich möchte – wie  ich am Anfang gesagt habe – am Rande doch noch auf das Corona-Virus eingehen. Dabei kann ich zweifellos an Böll anschliessen. Denn je länger die Krisenzeit dauert, umso mehr stellt sich die Frage: Wie viel darf es der Gesellschaft, vor allem der Wirtschaft kosten, dass sie auf die Gesundheit, sogar auf das Überleben der Alten, Schwachen, Kranken Rücksicht nimmt?

Und da ist die Stimme der Kirche wichtig, ja notwendig. Sie erinnert daran, dass auch das – wie die Nazis gesagt haben – «lebensunwerte» Leben einen Wert, einen Sinn. Dafür dürfen wir dankbar sein.

PS: Zwei Tage nach der Ausstrahlung wurde mein «Wort» noch aktueller. Am Dienstag meinte Boris Palmer, der (grüne!) Bürgermeister von Tübingen: «Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters.»

Ähnlich argumentierte der zweithöchste Deutsche, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU!), den Schutz des Lebens gäbe es nicht absolut.

Der Tagesspiegel kommentierte: «Welches Mass an Menschlichkeit wollen wir uns leisten?»

Walter Ludin

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.blogs-kath.ch/wozu-braucht-es-die-kirche/