Warum ich zugeschlagen habe

Ich war 18, er war deutlich älter als ich, stärker, und völlig betrunken. Und er hielt mir die Tür zu, durch die ich raus wollte. Weil er fand, er hätte ein Recht darauf, dass ich zuhöre, wenn er mir seine Sicht der Dinge erklären wollte. Ich wollte nicht zuhören, ich wollte nur noch weg. Also schlug ich ihm auf den Arm, mit dem er die Tür zuhielt. Er gab mir den Weg frei, nicht ohne mir noch zu sagen, was ich da gerade Schreckliches getan hätte.

Als ich ihn Jahre später auf diesen Vorfall ansprach, konnte er sich nicht erinnern. Vielleicht hatte er am Tag danach schon vergessen, was passiert war, sein Alkoholpegel war beachtlich gewesen. Ich kann es nicht vergessen – das einzige Mal, als ich als Erwachsene einen Menschen geschlagen habe.

Und dann dieses Sonntags-Evangelium – Bergpredigt, Fortsetzung der letzten Wochen: «Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand!» (Matthäus-Evangelium, Kapitel 5, Vers 39). Und die andere Wange hinhalten. Ist das Lebens-förderlich? Lernen Menschen mit solchen Ermahnungen, dass Gott es gut mit ihnen meint? Kein Wunder, dass genau diese Passagen seit 2000 Jahren abgeschwächt werden, mit immer neuen Begründungen. Sie stehen aber immer noch da, stur und widerständig. «Seid vollkommen!» fordert Jesus ein paar Verse weiter auf. Wäre es vollkommener von mir gewesen, wenn ich mich damals, mit 18, nicht gewehrt hätte? Ich meine, nein. Und ich finde es unerträglich, wenn mit Hinweis auf solche Texte hilfloses, scheinbar demütiges Verhalten gefördert wird, wo Menschen (meistens sind es Frauen) doch Bestärkung darin bräuchten, aufrecht zu stehen und ihre Position zu vertreten!

Vielleicht gibt es Menschen, die auf Widerstand verzichten und die andere Wange hinhalten können. Ich bin mir ziemlich sicher – das sind nicht diejenigen, die aus Angst so handeln, nicht diejenigen, die keine andere Wahl haben. Erst brauchen wir alle unsere Stärke. Und danach können wir uns vielleicht entscheiden, sie nicht zu nutzen.

Karin Reinmüller

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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