Karin Reinmüller

Nachdenken über den Tod

(heute mal wieder aus zum Dauerzustand werdenden aktuellen Anlass kein Text zu einem Sonntags-Bibeltext)

Im letzten Herbst hatten wir, zusammen mit unserer reformierten Nachbarpfarrei, einen überraschend gut besuchten Abend zum Thema assistierter Suizid. Es gab eine sehr ernsthafte, respektvolle Diskussion, bei der ich mit meiner Position, dass Leben nicht frei verfügbar ist und auch in grosser Angewiesenheit auf Hilfe würdevoll gelebt werden kann, gefühlt in der Minderheit war. Und auch wenn ich etwa Terry Pratchets Aussage «My life, my death, my choice» (»Mein Leben, mein Tod, meine Wahl») nicht teilen kann – ich habe grossen Respekt vor den Menchen, die mir von ihren Lebensumständen und ihrer Entscheidung für einen assistierten Suizid berichtet haben.

Auch jetzt wird wieder über den Tod nachgedacht, allerdings unter einem umgekehrten Vorzeichen: Wir unternehmen alles, um Menschen vor dem Covid-19-Tod zu bewahren – ohne sie danach zu fragen, ob sie das überhaupt wollen. Dabei gibt es sie, Menschen, die zum Beispiel lieber weiter engen Kontakt mit ihren Angehörigen hätten und bereit wären, das Risiko einer Ansteckung mit eventuell tödlichen Folgen einzugehen. Menschen, die keinen Wert auf ein möglichst langes Leben legen und denen stattdessen Aspekte von Lebensqualität wichtiger sind – und die selbst darüber entscheiden möchten.

Und der Mist an diesem Virus ist: Es nimmt uns sogar diese Fähigkeit. Ich kann ein entspanntes Verhältnis zu meinem sowieso unvermeidbaren Tod pflegen, ich kann eine Patientenverfügung erstellen, dank der ich niemand ein möglicherweise knappes Spitalbett wegnehmen würde – aber ich kann nicht verhindern, dass ich womöglich andere Menschen anstecke, die eine ganz andere Meinung zu diesem Thema haben als ich. Weil wir noch nicht genug darüber wissen, wie Ansteckungswege verlaufen.

Das sollten wir so bald wie möglich herausfinden. Und zwar nicht, um dann um jeden Preis Ansteckungen zu verhindern. Sondern damit wir wieder Menscher erlauben können, Risiken einzugehen, ohne befürchten zu müssen, dass etwa der Spaziergang einer Altersheim-Bewohnerin zur Lebensgefahr für Mitarbeiterinnen und Mitbewohner wird. Damit wir unsere Entscheidungsfähigkeit wiederbekommen.

Bild: aron visuals auf unsplash.com
19. April 2020 | 14:40
von Karin Reinmüller
Lesezeit: ca. 1 Min.
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