Karin Reinmüller

«Kehr um, Gott!» – Wider die Harmoniesucht

Ein gewisses Etwas haben sie immer wieder, die biblischen Psalmen, vor allem wegen der Kreativität, mit der sie formuliert sind. Psalm 90 ist so einer, mit einem ungewöhnlichen und treffenden Ausdruck zu Beginn: Bevor irgend etwas entstand, heisst es da, «bist Du, o Gott» – ohne Übersetzungsfehler, da wird tatsächlich mit der Gegenwartsform ausdrückt, dass Gott ausserhalb nicht nur des Raumes, sondern auch der Zeitdimension steht.

Vor einigen Tagen ist mir eine weitere Formulierung aus diesem Psalm aufgefallen, passend zur Fastenzeit ist dort von Umkehr die Rede, das kennt man. Was man nicht kennt ist, dass die Aufforderung zur Umkehr (der Titel ist Zitat – Psalm 90, Vers 12) an Gott gerichtet ist, der bereuen soll, was er getan hat. Zugegebenermassen eher bittend als fordernd formuliert, wer immer hier betet hat offenbar nicht vergessen, wofür sie/er am Anfang so geniale Worte gefunden hat. Trotzdem: Eine Bitte an Gott, umzukehren und zu bereuen, würde man so schnell in keinem Gottesdienst formulieren, Corona hin oder her. Viel näher liegt, von uns selbst (womit im kollektiv klingenden «wir» gern «die anderen» gemeint sind) Umkehr und Reue zu verlangen, mit der suggerierten Begründung, wir seien auch an natürlichem Unglück selber schuld (je nach kirchenpolitischer Ausrichtung mangelt es in dieser Logik an Umweltbewusstsein oder Sexualmoral).

Offensichtlich wünschen wir uns Harmonie mit Gott. Einen Gott, der alles so gut macht, dass auch wir das erkennen können, so dass uns bei allem, was uns zustösst, maximal ein paar Jahre später klar wird, dass es doch für etwas gut war. Einen Gott, dem wir nie zu widersprechen brauchen, weil alles, was er verantwortet, vollkommen ist.

Nur: Will Gott so eine Ergebenheit von uns? Der Gott, dem wir einen Verstand verdanken, mit dem wir idazu imstande sind, zu erkennen, wie wenig wir verstehen? Einen Verstand, der aber genügt, um dazu zu verpflichten, das Leben zu suchen und zu fördern, so gut wir es können. Ich gehe davon aus, dass wir den haben, um ihn zu gebrauchen. Deshalb Gott widersprechen, wenn er nach allem, was wir erkennen können, umkehren sollte. Die Möglichkeit offen halten, dass wir noch ein ganzes Stück zu wenig verstehen, aber nicht aus Harmonie-Sehnsucht uns das verbieten, was wir verstehen. Psalm 90 ist dafür ganz gut geeignet.

Bild: neonbrand auf unsplash.com
7. März 2021 | 16:49
von Karin Reinmüller
Lesezeit: ca. 1 Min.
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Ein Gedanke zu „“Kehr um, Gott!” – Wider die Harmoniesucht

  • stadler karl sagt:

    Ein sehr schöner Beitrag! Wenn ich Ihren Beitrag richtig vertehe und auffasse, drängt sich einem die Diskussion um die Abänderung des “Vater unser” in die Erinnerung. “…lass uns nicht in Versuchung geraten..” statt “…führe uns nicht in Versuchung…” hat doch irgendwie auch etwas damit zu tun, dass Gott umkehren, bzw. den ganzen Geschehensabläufen manchmal eine andere Richtung verleihen sollte. Aber Zweifel stellen sich ein, wenn man davon ausgeht, dass der Mensch mit Freiheit ausgestattet ist, dass er fähig ist, nach Gründen zu handeln und nicht lediglich ein Moment eines kausalen Prozessablaufs bildet. Sofern es wirklich zutreffen sollte, dass wir, geleitet von Gründen, handeln können und unser Dasein sich nicht ledigich in kausalen Prozessabläufen ereignet, dann hat Gott uns doch schon längst in “Versuchung geführt”. Die Last der Freiheit lässt sich doch fast notgedrungen ohne eine ständige Versuchung nicht denken!

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