Gian Rudin

In der Matratzengruft

Die Karwoche ist gewohnheitsmässig mit Leid und Bitternis assoziiert. Die intensiven Bilder von Mel Gibsons The Passion of the Christ inszenieren den Leidensweg Christi auf martialische Weise. Der geschundene und drangsalierte Leib ist auch ein Brandmal, welches Heinrich (Harry) Heine in den letzten Jahren seines Lebens beschäftigt. Langsam wird sein ganzer Körper paralysiert. Die Jahre von 1848 bis 1856 verbringt er in der von ihm benannten Matratzengruft in Paris. Das tut jedoch seiner Produktivität keinen Abbruch. In dieser Zeit verfasst er mit dem Romanzero sein drittes lyrisches Hauptwerk. Darin interpretiert er sein eigenes Leiden in weltgeschichtlichen Zusammenhängen. Das Scheitern der bürgerlichen Revolutionen und sein individuelles Siechtum verquicken miteinander. Das Elend der eigenen Qualen fühlt sich an wie ein Stigma der historischen Zustände. Dabei legt Heine einen imposanten Querschnitt verschiedenster historischer Epochen vor. Mit einer geschichtspessimistischen Attitüde entlarvt er dabei gemeinmenschliche Abgründe. Überall und zu jeder Zeit sind die gleichen destruktiven Kräfte am Werk. Ausbeutung und Entfremdung sind dabei die Konstanten in den grossen Wellengängen der Geschichte. Die Welt wird zum «grossen Narrenhaus». Menschliche Ausschweifung und Willensschwäche dominieren die Szenerie des Welttheaters. Diese historischen Balladen erzählen in dichterischer Form von den Charakterdeformierungen der menschlichen Spezies und den sich daraus ergebenden dramatischen Verstrickungen.

Ein anderer Teil des Romanzeros besteht aus persönlichen Lamentationen über den eigenen Schicksalsverlauf. Hier findet sich die Identifizierung mit der biblischen Figur des Lazarus. Heine sieht sich als lebendigen Toten, der aus der Abgeschiedenheit des Sterbelagers noch einmal die Stimme erhebt. Insbesondere das unerträglich langatmige Zeitempfinden ist ein markantes Thema. Lange Weile als Zerdehnung der Zeit ins Unerträgliche. Das Zerfliessen der Zeit gleicht dem Gleiten einer Schnecke. Heine sieht sich als Gefangener der Zeit, er ist ausgeliefert an einen nicht enden wollenden Augenblick. Heine erlebt also seine Kar-Zeit. Kara, das meint im Althochdeutschen Klage oder Kummer. Kar-Momente gehören zur Dynamik des Lebens.

Dennoch verliert Heine auch in dieser Phase seines Schaffens nicht den für ihn typischen humorvoll-sarkastischen Unterton. Darin offenbart sich die Grazie des Humors. Vielleicht ist ein solcher Humor eine leise Vorahnung auf die Botschaft von Ostern. Ostern als unbezwingbares Trotzdem. Durch die verschlungenen Pfade aller Irrungen und Wirrungen hindurch bahn sich das Leben seinen Weg. Jesus hat die ganze Dramatik der menschlichen Existenz erfahren: Verrat, Verleumdung, Verspottung. Einsame durchwachte Nächte. Belastung bis zum Zusammenbruch. Beraubung und Begaffung. Im Kreuzesschrei noch ein letztes Aufbäumen gegenüber der Sinnlosigkeit des Todes. Grabesruhe. Und dann: Das Osterlachen. Vielleicht eher ein Osterlächeln als sanfter Triumph über alles Verabscheuenswürdige.

Bildquellen

  • Matratzengruft: © Gian Rudin
Ons’ Lieve Heer op Solder, Amsterdam
31. März 2021 | 00:27
von Gian Rudin
Lesezeit: ca. 2 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!

Ein Gedanke zu „In der Matratzengruft

  • karl stadler sagt:

    Ein wirklich interessanter und schöner Beitrag, Herr Rudin! Vor allem unter anthropologischer Sichtweise lesenswert.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

Du kannst diese HTML-Tags und -Attribute verwenden:

<a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.