Karin Reinmüller

Grenzüberschreitendes

(Artikel erstmals erschienen im reformiert.lokal des Kirchenkreises 3, Zürich, September 2023)

«Möchte ich mit diesem Menschen mein Badezimmer teilen?» Das ist eine Frage, die wir uns in der Stadtkloster-Wohngemeinschaft jeweils stellen, wenn eine von uns über eine Notaufnahme nachdenkt – also zum Beispiel jemand gegenübersteht, der an unserer Tür geklingelt hat und auf ein Nachtlager hofft.

Die Stadtkloster-WG in der Wiedingstrasse versteht sich als spirituell-diakonische Wohngemeinschaft, deshalb beten wir nicht nur immer wieder gemeinsam, sondern leben auch eng mit Menschen zusammen, die unsere Unterstützung suchen. Vor allem sind das Geflüchtete, mit denen wir unser Leben über lange Zeit, Monate bis mehrere Jahre, teilen. Menschen, die aus einer anderen Kultur kommen, mit schwierigen Lebenserfahrungen – und die häufig in sehr komplexen, manchmal ausweglosen, Situationen stecken. Manchmal finden auch Menschen in einer akuten Notlage den Weg zu uns. Einigen können wir helfen und werden zum Dank zu Fast-Familienmitgliedern ernannt. Andere gehen enttäuscht, weil wir ihnen nicht geben können, was sie von uns erhofften.

Auch wenn sich die Badezimmer-Situation dank einer zweiten Dusche inzwischen etwas entschärft hat: Wir teilen unsere Küche, unser Wohnzimmer, Mahlzeiten, manchmal Gebetszeiten – und teilen damit unausweichlich auch unsere Köpfe und Herzen. Nicht alle WG-Mitglieder sind da in gleichem Mass involviert. Und wir sind froh um professionelle Mitarbeiter:innen und Anlaufstellen, wo unseren Gästen geholfen wird. Aber wir lassen in unserem Zusammenleben automatisch eine Konfrontation mit den Schicksalen unserer Mitmenschen zu, die oft anstrengend ist, und manchmal grenzüberschreitend. Auch wenn wir keine Fragen stellen, auch wenn wir vielleicht nie über Erlebtes miteinander reden – wir lassen uns Menschen nahe kommen, die uns manchmal erschrecken. Weil wir gerne helfen würden, aber keine Lösungen für sie haben.

Das auszuhalten ist im alltäglichen Zusammenleben schwieriger als in einer Einrichtung mit grösserer Distanz zwischen Helfenden und Gästen. Wir hoffen, dass genau dieses Engagement mit seinen vielen zwanglosen Begegnungs-Möglichkeiten hilfreich sein kann für unsere Gäste. Und wir lernen, Rücksicht zu nehmen auf unsere eigenen Grenzen und auf die unserer WG-Mitbewohner:innen – sie sollen sich in unserem Haus, mit all seinen kurz- und längerfristigen Bewohner:innen, daheim fühlen können. Möglicherweise können sich unsere Grenzen verschieben, weiter werden für Menschen, die auf unserer Sympathiskala erstmal nicht viele Punkte bekommen. Aber ob sie das tun oder nicht – wir machen erstmal, was wir jetzt können.

Bildquellen

  • : Bild: Alona Baliuk / Stadtkloster
Die Stadtkloster-WG beim Essen
1. Oktober 2023 | 11:26
von Karin Reinmüller
Lesezeit: ca. 1 Min.
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