Sitzungszimmer
Daniel Kosch

«Gott ist immer gegenwärtig» – auch an Sitzungen?

Unter dem Titel «Die Gegenwart ist entscheidend» veröffentlichte Peter Henrici SJ, emeritierter Weihbischof des Bistums Chur, kürzlich eine Meditation über die Zeit. Mit einem Ausrufezeichen versehen habe ich diese Passage:

«Das ‹Jetzt’ ist immer und unabdingbar Entscheidung in Begegnung mit dem immer gegenwärtigen Gott. Es ist, ob ich es weiss oder nicht, ob ich es will oder nicht, immer auch Begegnung mit Gott und folglich Entscheidung (auch) Ihm gegenüber. ‹Jetzt’ und immer nur ‹jetzt’, kann ich Gott wirklich begegnen; doch ‹jetzt’ ist diese Begegnung auch unausweichlich.»

Da sie meinen Arbeitsalltag prägen, habe ich mich gefragt, was dieses «’Jetzt’ und immer nur ‹jetzt’» der «Begegnung mit dem immer gegenwärtigen Gott» für die zahlreichen Sitzungen bedeutet, an denen ich teilnehme. Denn Sitzungen gelten vielen als «notwendiges Übel» und stehen daher nicht im Verdacht, privilegierte Orte der Begegnung mit Gott zu sein. Aus dem Nachdenken über diese Frage ist eine kleine «Theologie des Sitzungswesens» entstanden.

Keine «verlorene Zeit»

Wenn ich ernst mache mit dem Gedanken, dass auch eine Sitzung – wie alles andere im Leben – Ort und Zeit der Gegenwart und unausweichlichen Begegnung mit Gott ist, habe ich keinen Grund (und kein Recht), sie als «verlorene Zeit» anzusehen, mich aus dem «jetzt» der Sitzung zu verabschieden, indem ich meinen eigenen Gedanken nachhänge oder meine Mails checke und beantworte.

Sitzungsteilnehmende als einzigartige Menschen

Wenn ich zudem bedenke, dass jeder Mensch ein einzigartiges Kind Gottes ist, gilt dies auch für alle Teilnehmenden an der Sitzung. Was immer sie sonst noch sind – Präsidentin oder Protokollführer, Vertreter einer Organisation mit der Spannungen bestehen oder anstrengende Vielredner – sie verdienen, dass ich sie respektiere und auch Auseinandersetzungen so austrage, wie sich dies unter «Kindern Gottes» gehört: Wahrhaftig, mit wachem Ohr und offenem Herzen, verantwortungsvoll im Umgang mit Macht, stets auf der Suche nach der gerechten Lösung.

Wichtige Termine verdienen Vorbereitung

Wenn ich mir klar mache, dass jede Sitzung das Potenzial hat, eine Begegnung mit Gott und mit anderen Kindern Gottes zu sein, verdient sie schon im Vorfeld meine Aufmerksamkeit und Vorbereitung. Dazu gehört einerseits die sorgfältige Auseinandersetzung mit Unterlagen und Themen, anderseits die Vorbereitung der Begegnung mit den Gesprächspartnerinnen und –partner. Der Weg ins Sitzungszimmer ist dann nicht mehr dazu da, nochmals das Natel zu «checken», sondern ein bewusster Übergang von dem, was vorher war zu dem, was nun kommt.

Überraschungen und Veränderungsdynamik sind erwünscht

Wenn ich bedenke, dass Gegenwart und Begegnung mit Gott zwar in jedem «Jetzt» meines Lebens verheissen ist, aber stets überraschend und unverfügbar bleibt, werde ich im Verlauf der Sitzung auf Überraschendes und Unerwartetes achten. Ich werde versuchen, sensibel sein für das, was sich aus dem Miteinander ergibt, weil das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Ich werde nicht primär daran interessiert sein, dass ich samt meiner Überzeugungen und Positionen möglichst ungeschoren davonkomme, sondern daran, dass in der Sitzung eine Dynamik entsteht, die Veränderung ermöglicht und vielleicht zu einem Perspektivenwechsel herausfordert.

Ins Offene führen und Freiheit schaffen

Da ich überzeugt bin, dass da, wo Gott gegenwärtig ist, Freiheit aufblüht, Hoffnung gedeiht sowie Friede und Gerechtigkeit wachsen, sollen auch Sitzungen diesen Zielen dienen:

  • der grösseren Freiheit, nicht ihrer Beschränkung;
  • der Entwicklung von Perspektiven, nicht dem Kreisen um Probleme;
  • der Eröffnung von Wegen, die für alle gangbar sind, nicht dem Erringen von Siegen oder der Zufügung von Niederlagen.

Mitten unter Kochtöpfen …

Diese kleine «Theologie der Sitzung» gilt übrigens keineswegs nur für kirchliche Sitzungen mit religiösen Themen, sondern auch für Budgetsitzungen, Behördenarbeit, Team- oder Geschäftsleitungsmeetings etc. Wenn die spanische Mystikerin Teresa von Avila Recht hat mit der Aussage, Christus lasse sich «auch unter den Kochtöpfen» finden, gilt das auch für andere Alltagsbeschäftigungen, Sitzungen nicht ausgenommen.

 

Dem Thema «Sitzungen» widmet sich die Ausgabe 4/2016 der Zeitschrift OrganisationsEntwicklung unter dem Titel «Zusammen denken. Ein Manifest für bessere Besprechungen».

Sitzungszimmer | © pixabay.com CCO
19. Februar 2017 | 19:31
von Daniel Kosch
Lesezeit: ca. 2 Min.
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