Karin Reinmüller

Ezechiel – Ein Mann hat Visionen

«Wer Visionen hat, sollte zum Arzt», hat Helmut Schmidt angeblich gesagt. Die Echtheit des Zitats ist umstritten, sein Inhalt weniger. Zumindest, wenn es um Menschen geht wie den Propheten Ezechiel, der in der für diesen Sonntag vorgesehenen Lesung eine seiner Visionen schildert (Ezechiel, Kapitel 37): Der geht über ein riesiges, von Knochen bedecktes Feld, in dem die Gebeine anfangen, sich zu bewegen, sich zu menschlichen Skeletten zusammenfügen, mit Fleisch und Haut überziehen und schliesslich vom Geist Gottes wieder zum Leben erweckt werden. Eine apokalyptische Szene, die wenig mit den ebenfalls Visionen genannten Zukunftsvorstellungen von Startup-GründerInnen gemeinsam hat.

Ezechiel ist auch sonst ein aussergewöhnlicher Zeitgenosse: Zeitweise verschlägt es die Sprache, so dass er verstummen muss, Teile seines Buches sind in einem Stammeln geschrieben, das ahnen lässt, dass dahinter ein nicht in geordneter Grammatik ausdrückbarer Schrecken steht. Das alles lässt einige WissenschaftlerInnen aus über 2500 Jahren Entfernung eine Diagnose vermuten: Ezechiel könnte psychisch krank gewesen sein, vermutlich traumatisiert. Mal angenommen, er war das. Was er sicher auch war: Ein Prophet im Volk Israel (das damals nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems im Exil leben musste). Und als solcher, wie für Propheten üblich, sicher nicht von allen anerkannt, aber doch von manchen geschätzt als einer, der mitteilen kann, was Gott sagen möchte. Seine Vision vom Totenfeld, in das neues Leben kommt, mit der Zusage Gottes für einen neuen Anfang und eine Rückkehr nach Jerusalem, konnte seinen ZeitgenossInnen Mut machen. Eine durchaus gesunde Emotion, gerade in der schwierigen Exilsituation. Wäre Ezechiel nur als Kranker betrachtet worden, hätten seine Mitmenschen versäumt, was er ihnen zu geben hatte.

Unter der aktuellen Situation leiden Menschen, die Erfahrung haben mit psychischen Krisen, nicht weniger als andere – in gewissen Hinsicht eher mehr, weil sich viele mit plötzlichen Veränderungen und gerade Kontakteinschränkungen schwer tun. Aber eins haben sie Menschen ohne Krisenerfahrung voraus: Sie kennen so was schon. Und haben deshalb anderen vielleicht etwas zu geben, Erfahrungen von Werkzeugen, die helfen können. Oder auch, so ähnlich wie Ezechiel, Visionen einer Wirklichkeit, die so hoffnungsvoll ist, dass sie nichts als Mut machen.

Lutherbibel 1534 Bild: Wikimedia Commons
28. März 2020 | 20:43
von Karin Reinmüller
Lesezeit: ca. 1 Min.
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