Markus Baumgartner

Erstaunlich: Ein Büezer-Gebet erobert die Charts

Er war bisher völlig unbekannt, wohnte irgendwo im Westen der USA und stürmt jetzt mit Millionen von Clicks die Charts: Oliver Anthony, ein Country Singer/Songwriter aus der Kleinstadt Farmville (Virginia, USA). Mit seiner Stimme und seinem Text trifft er den Nerv einer Bevölkerung, die überraschend arm ist. Oliver Anthony möchte der Arbeiterklasse und den durchschnittlichen, hart arbeitenden jungen Menschen, die kaum über die Runden kommen, neue Hoffnung geben.

Selten ist ein Musiker, den vorher kaum jemand gekannt hatte, in so kurzer Zeit so bekannt geworden. Der Song von Oliver Anthony (30) zählt seit wenigen Tagen zu den am meisten heruntergeladenen Songs im Internet – sei es auf YouTube, iTunes, Billboard, Spotify oder Tiktok. Auf der iTunes-Hitparade von Apple belegt seine Musik gleich Rang Eins, und zwar international und vor etablierten Musikschaffenden. Der Song «Rich Men North of Richmond» ist eine Mischung aus Wut, Verzweiflung und Reue. Die Reaktionen darauf sind deutlich: «Dieser Mann schreit heraus, was jeder wahre Amerikaner tief in seiner Seele fühlt.» Er sorgt für Emotionen: «Dieser Song trifft mich wirklich mitten ins Herz.» Ja, der Song ist ein Stück weit Seelsorge: «Das ist die US-Hymne für das 21. Jahrhundert. Ich kann nicht genug für dieses Lied danken! Er spricht mehr für uns als jeder Politiker, den ich je in meinem Leben gehört habe. Gott segne dich!» Und der Song gibt den Menschen Mut: «Als einer dieser jungen Männer, der sich mehrmals fast selbst in den Boden gestampft hat, möchte ich dir dafür danken, dass du den Kampf wahrgenommen hast. Diese Zeile treibt mir jedes Mal die Tränen in die Augen, wenn ich sie höre, weil ich das Gefühl habe, dass ich nicht nur ignoriert werde. Ich danke dir.» 

«Nur ein Idiot und seine Gitarre»

Bisher hat Oliver Anthony ein paar Songs mit seinem Handy aufgenommen und auf YouTube gestellt. Nun wurde erstmals ein Song vor einem Waldstück mit einem Mikrophon aufgenommen und am 8. August 2023 über den YouTube-Account der winzigen Radiostation radiowv veröffentlicht. Im Hintergrund sieht man drei Hunde, die am Boden sitzen und fast so traurig schauen, wie Oliver Anthony seiner Seele Luft verschafft. Dies mit einer Stimme, die man so leicht nicht mehr vergisst. Oliver Anthony trägt ein zerknittertes T-Shirt und alte, staubige Jeans, er schmettert seinen Song durch seinen mächtigen roten Bart. Oliver Anthony erklärt nach einem ersten Schock über den Grosserfolg über sich selbst: «Dieser Song hat Millionen von Menschen auf einer so tiefen Ebene erreicht, weil er von jemandem gesungen wird, der die Worte genau in dem Moment fühlt, in dem sie gesungen werden. Keine Bearbeitung, keine Agenten, kein Bullshit. Nur ein Idiot und seine Gitarre.» 

Bibeltext am Konzert

Wie sich der Erfolg auswirkt, zeigt ein weiteres YouTube-Video: Oliver Anthony spielte am Sonntag, 13. August 2023, ein Nachmittagskonzert in Currituck (North Carolina) beim Morris Farm Market. «Als ich im Juni hier aufgetreten bin, waren 20 Zuschauende da. Das ist der schöne Teil dieses Landes, dass sogar ein Idiot wie ich etwas bewegen kann», erklärte der Sänger einleitend. Jetzt sind es hunderte und vor dem Aufritt brach der Verkehr zusammen. Zuerst las er aus der Bibel aus Psalm 37: «Das Wenige, das ein Gerechter hat, ist besser als der Überfluss vieler Frevler. Denn die Arme der Frevler werden zerbrechen, aber der Herr erhält die Gerechten. Der Herr kennt die Tage der Frommen, und ihr Erbe wird ewiglich bleiben. Sie werden nicht zuschanden in böser Zeit, und in den Tagen des Hungers werden sie satt werden.»

In den USA leben 40 Millionen in Armut

Oliver Anthony kanalisiert im Song die ganze Wut des amerikanischen Arbeiters und artikuliert sie hervorragend in einem Song, der bei den Menschen spürbar ankommt: Er spricht höhere Steuern, die hohe Teuerung oder tiefen Löhne an, die zu Hoffnungslosigkeit, Sucht, Arbeitslosigkeit, Angst, Depression und Selbstmord führen. Viele Menschen sind krank und müde. Was man meistens nicht beachtet: In den USA gibt es 40 Millionen Menschen, die gemäss dem US-Census Bureau unter der Armutsgrenze leben. Vor zwanzig Jahren waren es noch 30 Millionen.«Als Trucker kann ich die Strophe ›Working all day, overtime hours for bullshit pay’ sehr gut verstehen, denn keiner von uns wird für seine Arbeit ausreichend bezahlt.» Eine weitere Reaktion: «Ich bin ein 35 Jahre alter Mann aus der Arbeiterklasse, zwei Kinder und eine Frau. Ich arbeite 60 Stunden die Woche und kämpfe. Dieser Song trifft mich wirklich, Mann. Wirklich.» Der Songtext sendet eine kraftvolle Botschaft an die reichen Politiker in Washington D.C. «Wenn der junge Mann von den reichen Männern nördlich von Richmond spricht, meint er die Chefbeamten, Lobbyisten, Journalisten und Politiker, die in der Agglomeration von Washington im nördlichen Virginia leben: in lauschigen, sicheren, geräumigen Häusern, weit weg vom Elend, das ihre Politik an anderen Orten anrichtet», schreibt Nebelspalter-Chefredaktor Markus Somm. Richmond ist die Hauptstadt im US-Bundesstaat Virginia, die weiter im Süden liegt. Der Song richtet sich an die politische Elite auf beiden Seiten der Kluft zwischen Demokraten und Republikanern. Eigentlich wären die regierenden Demokraten jene Partei, der einer wie Oliver Anthony noch vor wenigen Jahren wohl blind vertraut hätte. No more. Die Partei hat ihn im Stich gelassen. Statt ihm zu helfen, schreiben sie ihm vor, wie er zu denken und zu reden hat: «Lord knows they all just want to have total control» – und dabei ist doch schon das Wort «Lord» eigentlich verboten, schreibt Markus Somm weiter. Nein, verboten ist der Anruf Gottes nicht. Das Lied von Oliver Anthony ist nämlich ein richtiggehendes Büezer-Gebet: «Lord, it’s a damn shame. What the world’s gotten to. For people like me, and people like you. Wish I could just wake up, and it not be true. But it is, oh, it is.» (Mein Gott, es ist eine verdammte Schande, was aus der Welt geworden ist. Für Leute wie mich – und Leute wie dich. Ich wünschte, ich könnte einfach aufwachen, und es wäre nicht wahr. Aber es ist, oh, es ist.)

«Manchmal muss man auf die Knie fallen»

Oliver Anthony hat 2010 mit 17 Jahren die Highschool abgebrochen. Er hat in mehreren Fabriken gearbeitet, zuletzt in einer Papierfabrik in McDowell County. Er arbeitete in der dritten Schicht, sechs Tage die Woche für 14,50 Dollar pro Stunde «in der Hölle des Lebens», wie er sagt. Von 2014 bis vor ein paar Tagen hat er im Aussendienst in der industriellen Fertigung gearbeitet. Sein Job hat ihn durch ganz Virginia und in die Carolinas geführt, wo er zehntausende andere Arbeiter auf Baustellen und in Fabriken kennengelernt hat. «In den letzten zehn Jahren habe ich den ganzen Tag damit verbracht, jeden Tag die gleiche Geschichte zu hören. Die Menschen haben es so verdammt satt, vernachlässigt, geteilt und manipuliert zu werden.» Oliver Anthony besitzt ein Stück Land, das er in eine kleine Farm umwandeln will, um Vieh zu züchten. Dort wohnt er in einem kleinen Wohnmobil. Er hatte früher mit psychischen Problemen und Alkohol zu kämpfen, ist aber nun nüchtern, nachdem er unter Tränen zusammengebrochen war und zu Gott gefleht hatte, ihn vom Trinken und den Depressionen zu befreien. «Wie einst die Wanderer in der Wüste haben wir uns von Gott entfernt und uns von falschen Götzen ablenken und spalten lassen. Es ist eine verdammte Schande.» Oliver Anthony erklärt in einem Video vom 7. August 2023 – am Vorabend bevor der Song viral ging: «Ich war lange Zeit ein kleiner wütender, agnostischer Punk. Ich war so wütend über das Konzept von Gott, weil ich meine Vorstellung von Gott pervertiert hatte, weil ich die Religion der Menschen als Gott ansah, nicht Gott selbst. Es gibt einen göttlichen Schöpfer, der dich liebt. Manchmal muss man auf die Knie fallen und bereit sein, die Dinge aufzugeben, bevor man merkt, dass er da ist. Aber er ist immer da. Man muss nach ihm Ausschau halten und auf ihn hören.»

Bild Screenshot YouTube
22. August 2023 | 06:21
von Markus Baumgartner
Lesezeit: ca. 5 Min.
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2 Gedanken zu „Erstaunlich: Ein Büezer-Gebet erobert die Charts

  • Thomas Wallimann sagt:

    Am letzten Dienstag traf ich hier in der Nähe von Detroit, Michigan, John. Er ist etwa Mitte 80, arbeitete ein Leben lang in der Autoindustrie, hat ein Haus. Die Kinder sind erwachsen und haben Familie. John erzählt mir bei jedem Besuch, wie er die Gesellschaft sieht – und dies deckt sich weitgehend mit dem Song, der jetzt Nr. 1 in den Charts ist.
    Am letzten Mittwoch traten in Fox News die Kandidaten und eine Kandidatin für die innerparteiliche Ausmarchung für die US-Präsidentschaft der Republikanischen Partei zu ihrem ersten Streitgespräch an. Auch dort wurde ein Ausschnitt des Musikstücks gespielt. Tosender Applaus – und alle (!) Kandidaten gaben unisono der aktuellen Regierung die Schuld an der Misere. Selber zeigten sie keine wirklich echte Betroffenheit.
    Am letzten Donnerstag musst sich der ehemalige Präsident der USA, Donald Trump, dem Gericht in Georgia stellen – wie weitere fast 20 Mitangeklagte. Er hält sich für unschuldig – und die Bitte nach finanzieller Unterstützung eines seiner engsten Mitarbeiter und Unterstützer, Rudy Giuliani, damit er in diesen Prozessen die Anwälte bezahlen könnte, hat Trump abgelehnt.
    Was all diese Ereignisse miteinander verbindet?
    Es mangelt an Zuhören und Nachdenken.
    Ausrufen ist keine Kunst – Moralisieren noch viel weniger.
    Wer einen Blick in die Klage- und Zornespsalmen wirft, stellt fest, dass diese nicht nur das Ausrufen, Hilfeschreie und Klagen beinhalten. Sie enden häufig mit einer Anerkennung der Grösse Gottes, einer oft versteckten Form auch der Hoffnung.
    Dies fehlt in fast allen diesen Begegnungen zorniger Menschen der letzten Tage – darin liegt die grosse Gefahr. Denn Zorn ohne Hoffnungsperspektive ist gefährlich und anfällig für Instrumentalisierungen jeglicher Art.
    In der Schweiz beginnt die heisse Phase des Wahlkampfs für die Gesamterneuerungswahlen des eidg. Parlaments.
    Auch bei uns gibt es diese Stimmen des Zorns.
    Es liegt auch an uns, ob wir nur in die Strophen des Zorns einstimmen, oder ob wir nach den Hintergründen, den schwierigen Zusammenhängen und der Hoffnung fragen, die uns trägt.

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