Walter Ludin

Die Zeit rennt.

(Hier das Manuskript meines Sonntagswortes auf Radio Central, 8. Jan.)

Ich will es nicht verheimlichen: Es war nicht ganz einfach, ein Thema für die nächsten drei Minuten zu finden. Denn Weihnachten ist seit genau zwei Wochen vorbei. Es heisst zwar: Weihnachten ist das ganze Jahr. Dennoch würden Sie es nicht verstehen, wenn ich Ihnen jetzt weihnachtliche Gedanken vortragen würde.

Und ausserdem: Auch Neujahrsgedanken würden Sie wohl zu Recht stören. Denn das Jahr 2023 hat bereits sieben Tage hinter sich gebracht, mehr oder weniger glückliche. «Schon der 8. ist heute.», werden jetzt manche denken. Und es geht wohl uns allen so: Wir spüren immer mehr, wie die Zeit rennt. «Immer mehr», sage ich bewusst. Denn es ist erwiesen, dass 20-Jährige das Gefühl haben, die Zeit vergehe doppelt so schnell als mit 10 Jahren. Und 40-Jährige haben das doppelt so schnelle Zeitgefühl wie 20-Jährige. Und so weiter. Vielleicht können Sie darüber nachdenken, ob diese Feststellung auch für Ihr Leben gilt.

Und auch dies: Offensichtlich leben wir immer länger – und gesünder. Erinnern wir uns doch, wir unserer Grosseltern mit 75 ausgesehen haben. Die meisten waren wirklich alte Leute, recht gebrechlich und dem Tode nahe. Und heute: Sagen Sie einem 75-Jährigen er sei sehr alt. Und Sie machen sich bei ihm nicht beliebt.

Es gibt das immer lauter werdende Klagelied von der Überalterung der Gesellschaft, von ihrer Vergreisung. Ich meine: Statt darüber zu klagen sollten wir eigentlich dankbar sein für die immer stärker wachsende durchschnittliche Lebenserwartung. Sie beträgt bei uns beachtliche 82 Jahre. Wobei dies ja nur der Durchschnitt ist. Viele leben länger, 90 oder 100 Jahre oder noch mehr.

Dass ein langes Leben keineswegs selbstverständlich und normal ist, zeigen die weltweiten Statistiken. So werden die Menschen im Südsudan im Durchschnitt nicht einmal 28 Jahre alt; jene im Touristenparadies Malediven bloss rund 34-jährig.

Und Sie sind sicher mit mir einig: Dass wir so viele Jahre mehr leben dürfen, ist nicht das Verdienst von uns selber. Gewiss, wir können etwas dafür tun, zum Beispiel gesund leben. Aber wie viele gesund Lebende müssen schon früh sterben.

Zum Thema Lebenserwartung ist mir eine originelle Überlegung begegnet. Nämlich: Früher konnte die meisten ein Leben von 60 oder 70 Jahren erwarten plus ein ewiges Leben. Heute erwarten sehr viele, darunter auch gläubige Menschen 80 oder 90 Jahre – und dann nichts mehr.

Liebe Zuhörende. Erlauben Sie mir, das Rad der Zeit um etwa 350 Jahre zurückzudrehen. Damals schrieb der Barockdichter Andreas Gryphius die folgenden Verse:

«Mein sind die Jahre nicht/ die mir die Zeit genommen/
Mein sind die Jahre nicht/ die etwa möchten kommen
Der Augenblick ist mein/ und nehm’ ich den in acht
So ist der mein/ der Jahr und Ewigkeit gemacht.»


Auch nach fast vier Jahrhunderten können uns diese poetischen Verse ansprechen. Sie zeigen: Meine vergangenen und die kommenden Jahre sind ein Geschenk, ein Geschenk Gottes. Auch der jetzige Augenblick ist mir geschenkt. Ich kann ihn sinnvoll leben; und ihn so leben, dass Gott mir nahe ist – in Zeit und Ewigkeit.

Diese Zuversicht wünsche ich Ihnen das ganze Jahr, besonders auch im Augenblick des heutigen Sonntags.

9. Januar 2023 | 15:06
von Walter Ludin
Lesezeit: ca. 2 Min.
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2 Gedanken zu „Die Zeit rennt.

  • Cornelia Lerch sagt:

    Ein wunderschöner Text über die Vergänglichkeit und die Wichtigkeit, die Augenblicke zu leben und geniessen und der Dankbar grösseren Platz einzuräumen, als dem Klagen.
    🙏

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