Papstdokumente
Daniel Kosch

Die Revolution der lehramtlichen Sprache

Erscheint ein neues wichtiges päpstliches Dokument, geht es mir meist so: Ich lese die ersten Presseberichte, lade das Dokument herunter, konsultiere die als besonders bemerkenswert kommentierten Abschnitte und nehme mir vor, das ganze Dokument in Ruhe zu lesen. Sobald der Text im Buchhandel erhältlich ist, kaufe ich das Taschenbuch, lese die Einführung und die ersten Abschnitte. Leider – ich muss es gestehen – bleibe ich meist irgendwo stecken, der Text ist mir zu langatmig, anderes ist dringender oder scheint spannender.

Die Freude des Evangeliums

Mit «Evangelii gaudium», dem ersten apostolischen Schreiben von Papst Franziskus geht es mir anders. Schon bei der ersten Lektüre habe ich es bis zur Mitte der 300 Taschenbuchseiten geschafft. Auch nachher habe ich habe dieses lehramtliche Schreiben deutlich öfter zur Hand genommen als andere. Und in einer ruhigen Ferienwoche habe ich auch die zweite Hälfte gelesen.

Mein erster Eindruck war, dass es vor allem die frische, zugängliche und verständliche Sprache sei, welche die Qualität des Textes ausmacht. Er enthält viele einprägsame, anschauliche Formulierungen, welche die Anliegen des Bischofs von Rom auf den Punkt bringen.

  • Er plädiert für eine «heilsame Dezentralisierung».
  • Ihm ist «eine ‹verbeulte’ Kirche» lieber als eine Kirche, die sich «an die eigenen Sicherheiten klammert».
  • Er prangert die «Globalisierung der Gleichgültigkeit» an.
  • Er wünscht sich Bischöfe, die «den Geruch der Schafe haben».

Hinzu kommen Wendungen, die mich an theo-poetische Texte einer Dorothee Sölle oder eines Kurt Marti erinnern. Franziskus spricht von einer «mystischen, kontemplativen Brüderlichkeit», die die «heilige Grösse des Nächsten zu sehen» und «in jedem Menschen Gott zu entdecken weiss». Oder er sagt von Jesus, er habe uns in seiner Menschwerdung «zur Revolution der zärtlichen Liebe» eingeladen».

Bildhaft und erfahrungsgesättigt

Erst mit der Zeit ging mir auf, dass die Sprache dieses programmatischen Dokumentes des Bischofs von Rom nicht nur bildhaft und erfahrungsgesättigt ist, sondern reich an theologischen Bezügen. Das beginnt schon bei den titelgebenden ersten Worten «Freude des Evangeliums». «Evangelii gaudium» knüpft unüberhörbar an «Gaudium et spes», den für das Zweite Vatikanische Konzil charakteristischsten Text an. Zugleich verweist diese Formulierung auf die vielen Stellen des Evangeliums, in denen von «Freude» die Rede ist: Freude über das wiedergefundene, zunächst verloren geglaubte Schaf, Freude an der guten Nachricht der Befreiung, Freude an der Begegnung mit dem Auferstandenen. Diese Freude kontrastiert Franziskus nicht nur mit der Sünde, sondern mit «Traurigkeit», «innerer Leere» und «Vereinsamung».

Revolution der zärtlichen Liebe

Auch die Rede von einer «Revolution der zärtlichen Liebe» ist sehr bewusst gewählt und weit mehr als eine nur «schöne» Formulierung. Hinter dem Begriff «Revolution» steht die Erfahrung, dass die Energie für einen tiefgreifenden Umbruch sich längere Zeit aufbaut und dann plötzlich Bahn bricht. Was in der Tiefe vieler Menschen als Sehnsucht und Mangel da war, wird plötzlich möglich. Die Nähe Gottes, die Verbindung von mystischem Glauben, gelebter Nähe und Einsatz für Gerechtigkeit nimmt Gestalt an. Neues geht auf, um eine ungelöste Spannung der Vergangenheit zu heilen, die unerfüllten Wünsche der Vergangenheit zu erfüllen. Ist dieser Begriff der «Revolution» nicht sehr treffend, um zu beschreiben, was im Wirken Jesu geschah – und was wir im Pontifikat von Franziskus erleben?

Diese «Revolution» geschieht mit «Zärtlichkeit» – also in einer Art, die berücksichtigt, dass alles Leben zart ist, verletzlich und endlich. Liebe zu den Menschen braucht deshalb Vorsicht und Sorgfalt, sie ist auf eine Art der Begegnung aus, die berührt ohne zu verletzen, die anspricht ohne zu urteilen. Ist es nicht das, was uns aus den heilenden Begegnungen Jesu im Evangelium entgegenkommt? Ist es nicht auch das, was den Umgang von Franziskus mit den Menschen, aber auch seine ethische Verkündigung, etwa im Bereich von Ehe und Familie ausmacht?

Eine neue Qualität der Sprache des Lehramtes

Je länger und genauer ich dieses päpstliche Dokument lese, desto deutlicher wird mir: Die Kritik, Papst Franziskus sei «kein Theologe» oder vertrete eine «Copacabana-Theologie», ist unberechtigt und voreilig. Und unabhängig davon, welche strukturellen Reformen er realisieren kann, hat sich mit seiner Art, das päpstliche Lehramt wahrzunehmen, etwas Entscheidendes ereignet. Ich möchte es die «Revolution der lehramtlichen Sprache» nennen. Sie verbindet Erfahrungsnähe und theologische Tiefe, einen analytischen Blick mit poetischer Kraft, biblische Qualität mit Verständlichkeit für heutige Menschen.

Es ist wohl unvermeidlich, dass in kurzen Abständen immer wieder neue päpstliche Äusserungen und Dokumente erscheinen. Dennoch hat das den Nachteil, dass auch ein so neuartiges Schreiben schon «von gestern» zu sein scheint, bevor es wirklich angekommen ist und eine mehr als nur oberflächliche Wirkung zeitigen konnte.

 

Papstdokumente | © Daniel.Kosch
29. September 2016 | 16:51
von Daniel Kosch
Lesezeit: ca. 3 Min.
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