Christian Kelter

Zwischen Aldi, Barbershop und Döner

Kirchenerfahrungen aus der Diaspora

Christi Himmelfahrt im Nieselregen. Ich sitze auf einer Wiese, eingeklemmt zwischen zwei duzend Hochhausblöcken und einem Einkaufszentrum. Aldi, Barbershop und Döner. Mein roter Plastikstuhl quietscht. Idyllisch geht irgendwie anders.

Aber ich bin nicht allein. Etwa siebzig Menschen sind mit mir hier – im Alter von 8 bis 80, gekleidet zwischen Fjällräven und Ost-Vintage. Beim Vater Unser höre ich überraschend Fremdsprachen. «Einige sprechen hier Persisch», wird mir später erklärt. Wir feiern Gottesdienst, auf einer Wiese, im Plattenbauviertel, gleich neben dem Einkaufszentrum.

Vor gut einem Jahr ist die kleine (evangelische) Gemeinde hier hin ausgezogen. Weil die Schutzmassnahmen in der engen Kirche nicht einzuhalten sind. «Wir sind seitdem obdachlos», schmunzelt der Pfarrer. Aber eigentlich passt alles was es für den Gottesdienst braucht in einen Bauwagen. Der bildet im Hintergrund eine Art Hochaltar. «Mobile Kirche» steht drauf. Und das ist so: Hier ist die Kirche beweglich – offenbar auch geistig.

Gepredigt wird über Epheser 1,15-23: «Ich höre nicht auf, für euch zu danken, (…) denn ich habe von eurem Glauben an Jesus, den Herrn, und von eurer Liebe zu allen Heiligen gehört.»

Glauben, das klingt in diesem Kontext anders als bei uns in Hünenberg. Spontan macht der Pfarrer eine Umfrage. Und ich kann es kaum glauben: Ich gehöre zur Minderheit derer, die schon dreissig und mehr Jahre Christ sind! Die meisten Erwachsenen hier sind erst seit plus/minus fünfzehn Jahren getauft. Die beiden Mittdreissiger neben mir erst fünf Jahre.

Was für eine frohe Botschaft: Gott ruft immer noch Menschen in den Glauben! Erwachsene nehmen auch heute noch freudig und hoffnungsvoll das Evangelium an. Es gibt tatsächlich viel Grund zu danken!

Das fasziniert mich wahnsinnig! Diese schwierige Frage: Wie kann das eine Evangelium zu den vielen Menschen kommen? Wie kann die eine Wahrheit in verschiedene Kontexte hineingesprochen werden? Das ist nicht leicht.

Hier, auf dieser Wiese, wird es anschaulich: Die Häuser, die Fenster, sind alle gleich. Aber die Menschen dahinter, die sind völlig unterschiedlich. Sie alle haben ihre sehr individuellen Hoffnungen und Träume, ihre ganz unterschiedlichen Sorgen, ihr höchst persönliches tägliches Allerlei. Wie können sie alle erfahren, dass Gott in ihrem Leben einen entscheidenden Unterschied machen würde? Wie können wir ihnen das auf eine Art erzählen, dass sie es hören wollen und freudig aufnehmen können?

«Ich habe von eurem Glauben (…), und von eurer Liebe zu allen Heiligen gehört.» Der Vers geht ja noch weiter! Zum Glauben gehört untrennbar auch die Liebe zu den Menschen. Heisst: zum Verkünden und Hören des Evangeliums gehört zwingend das konkrete Tun und Erleben.

Scheinbar gelingt das hier gut. «Wir sind Gemeinde mit Herz, Hand und Fuss» heisst der Wahlspruch. Auch das ist hier erlebbar! Ich erfahre in dieser Gottesdienstgemeinde eine grosse Offenheit und Gastfreundschaft. Ich kam als Fremder und wurde doch gleich wahrgenommen, begrüsst und eingeführt. Das versprüht eine schöne Leichtigkeit!

Eingeladen zum Gottesdienst hatte mich übrigens eine Sekretärin der Uni! Während ich mich bei der Uni einschrieb, empfahl sie mir diese Gemeinde. Das nenne ich mal Mission! Und obwohl ich erst das zweite Mal hier bin, fühle ich mich doch schon angekommen. Vielleicht kann Glaube so beginnen!

Da können wir (in Hünenberg) noch viel lernen. Da kann ich noch viel lernen. Und dazu bin ich hier. Lernen heisst, das eigene Verhalten durch Erfahrung und Übung nachhaltig zu verändern. Das ist stets nötig und immer möglich. Auch dafür bin ich dankbar.

Gegen Schluss des Lesungstextes heisst es: «Der Gott Jesu Christi, (…) gebe euch den Geist der Weisheit und Offenbarung.» Ja, bitte! Wir brauchen viel Weisheit aus dem Glauben. Und dass Gott sich uns hilfreich zeigen möge, ohne das geht es nicht. Das wünsche ich auch uns, als Schweizer Kirche. Dann wird es bald mal Pfingsten!

Grüsse aus dem hohen Norden! Wir bleiben verbunden!

Zum Kontext dieses Beitrags: Ich mache gerade ein dreimonatiges Sabbatical an der Uni Greifswald. Ich studiere hier Kirchen- und Gemeindeentwicklung und mache daneben ganz konkrete Erfahrungen abseits der Comfort-Zone.

Bildquellen

  • Plattenbau: privat
15. Mai 2021 | 11:35
von Christian Kelter
Lesezeit: ca. 3 Min.
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