Heinz Angehrn

«Wir waren unser vier»

Ein Beitrag zum Pfingstfest und zum Nachdenken

In unserem Haushalt ist es seit vier Jahren Brauch, dass Literatur verschiedener Provenienz vorgelesen wird. Zurzeit sind wir mit einem sehr wertvollen Buch aus der von Charles Linsmayer 1980 bis 1983 im Verlag Ex-Libris herausgegebenen Reihe «Frühling der Gegenwart. Der Schweizer Roman von 1890 – 1950» konfrontiert, dem Roman «Wir waren unser vier» von Kurt Guggenheim (1896-1983), veröffentlicht 1949 im Artemis-Verlag Zürich.

Guggenheim, als Jude, dessen Vater sein Judentum zu verdrängen versuchte, aus einer Zürcher Handelsfamilie stammend und eigentlich zur Nachfolge im Geschäft des Vaters bestimmt, verstand und fühlte sich sehr früh als Künstler, konkreter als Literat. Doch er musste 40 Jahre alt werden, bis er langsam seine Berufung auch zum Brot-Beruf machen konnte. Einen Namen machte er sich damals als Drehbuchschreiber für diverse Schweizer Filme der Kriegszeit, unter anderem auch für die Glauser-Verfilmung «Wachtmeister Studer».

Guggenheim leistete in beiden Weltkriegen (am Schluss im Grad des Wachtmeisters) insgesamt über 800 Tage Aktivdienst. Seine Erfahrungen und vor allem die Erinnerungen an die Situation der Schweiz und der Aktivdienstsoldaten im Zweiten Weltkrieg bewogen ihn nach 1945 zum Verfassen des Romans «Wir waren unser vier». Im Gespräch mit Linsmayer begründete er 1981 im Rückblick wie folgt: «Angesichts der vielen Bücher über den Ersten Weltkrieg erwartete ich nach 1945 eine rege literarische Auseinandersetzung … mit der Rolle, welche die Schweiz von 1933 bis 1945 gespielt hatte. Als sich zu meiner grossen Überraschung nirgend etwas regte … dachte ich auf einmal: Ja, wenn’s sonst niemand macht, muss ich etwas über den Krieg schreiben.» (S.218)

Was den Roman zum Meisterwerk macht, ist sein Oszillieren zwischen den beiden Polen der völlig sachlichen Darstellung der Nöte unseres Volkes in dieser Zeit (Rationierung, Verdunkelung, Aktivdienst, allgemeine Bedrohungslage) und dem philosophischen Aufarbeiten, wie es zur nationalsozialistischen Vermassung des Volkes und zum Gräuel des Holocaust kommen konnte. Dem ersten dient die geniale Gestalt des Materialverwalters Vinzens Umbrecht, der mitten in allem Chaos seine pedantisch-schweizerische Linie durchhält, dem zweiten die Reflexionen des jüdischen Biologen Glanzmann und des Dichters Anwand. Der vierte im Bunde, der welsche Arzt Loriol, dient als Ich-Erzähler und quasi Relais-Station.

Das Ganze ist eine schlechthin geniale und zudem kurz gehaltene Anbahnung, quasi ein literarisches Vorspiel, der nach 1945 folgenden grossen theoretischen Werken wie denen von Hanna Arendt und Karl Popper! Und zudem eine Liebeserklärung eines jüdischen Schweizers an sein Land und sein Volk, wie dieses in einer extremen Bedrohungslage durchhielt, während manche Reiche und Mächtige wankten, paktierten und an Flucht oder dann Anpassung dachten.

Dringendst – exakt zur Weltlage um den Ukraine-Krieg und die totalitäre Politik Putins passend – zum Lesen empfohlen. Wer Arendt und Popper auch scheut, hier hört er/sie die mahnende Stimme, sich nie der Vermassung und Verdummung hinzugeben.

Bildquellen

  • : pixabay.com
4. Juni 2022 | 06:00
von Heinz Angehrn
Lesezeit: ca. 2 Min.
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