Peter Henrici, emeritierter Weihbischof von Chur
Charles Martig

Warum ich immer an Weihbischof Henrici denken muss, wenn ich das Reizwort «MEI» lese

Das Gezanke und Gezerre um die Umsetzung der «Masseneinwanderungsinitiative» (MEI) ist für mich als politisch interessierten Staatsbürger gar nicht mehr zum Aushalten. Wer die Nationalratsdebatte am Mittwoch, 21.9.2016, verfolgt hat, kommt geradewegs zum Schluss, dass die gut Schweizerische Kompromiss-Politik im Mehr-Parteien-System an ihre endgültige Grenze gelangt ist. Bei dem Kürzel «MEI» muss ich immer an den emeritierten Weihbischof Peter Henrici denken, der in einem denkwürdigen Ausspruch seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht hat: «Ich bin der Meinung, dass die SVP die einzige Partei ist, die ein guter Christ nicht wählen kann.» Dies hat bereits im 2005 für Wirbel gesorgt. Nach der Annahme der MEI und dem ganzen Umsetzungs-Gezanke bewahrheitet sich nun das Diktum des klugen Jesuiten.

Jetzt sind wir also mitten in der Debatte um die Grenzen der Einwanderung in die Schweiz. Dass das Thema Ängste in der Bevölkerung und Aktivismus in der politischen Landschaft auslöst, ist leicht zu verstehen. Nur schon ein kurzer Blick in das nördliche Nachbarland zeigt, dass eine «Alternative für Deutschland» kein Wunsch-Szenario für die Schweiz darstellt. Wir brauchen keine Alternative, wir haben «zum Glück» bereits die SVP, die diesen politischen Ort besetzt und kräftig die Muskeln spielen lässt. So ist es gekommen, dass die Angst vor Ausländern und die Abstimmung über die MEI zum grössten Polit-Hick-Hack der letzten zehn Jahre geführt hat.

MEI aus katholischer Sicht

Aus katholischer Perspektive handelt es sich um ein seltsames Schauspiel. Da etwa 40 % der Katholikinnen und Katholiken aus dem Ausland stammen, sind wir eine multikulturelle Kirche, die stark von der Migration geprägt ist. Was wäre unser Standing in der Schweiz ohne die vielen Portugiesen, Spanier, Kroaten und Gläubige aus weiteren rund 100 Nationalitäten, die durch Zuwanderung die Kirche stärken? Die MEI richtet sich also gegen das Selbstverständnis dieser Migrationskirche, das die katholische Kirche in der Schweiz im Kern darstellt. Die MEI richtet sich also ganz direkt gegen die Lebensader der katholischen Identität.

Ich sage dies auch aus meiner eigenen Biographie heraus. Als Walliser bin ich ein katholischer Zürcher mit Migrationshintergrund. Seit 20 Jahren lebe ich in der Stadt Zürich und habe erlebt, wie die katholische Kirche immer multikultureller, stärker und vitaler geworden ist. Mit der MEI wird nun versucht, diese Entwicklung zu brechen. Natürlich nicht für die Walliser-Zürcher-Connection – wir sind schliesslich alle Schweizer und geniessen in der Eidgenossenschaft volle Personenfreizügigkeit – sondern über die Nationen und Kontinente hinweg.

Judäa kannte keine Ausländer-Kontingente als der gute Samariter auftauchte

Da denke ich gerne an das Gleichnis vom guten Samariter zurück, der ein Ausländer war und dem verletzten Mann am Strassenrand geholfen hat. Der springende Punkt in dieser Geschichte von Jesus ist, dass der gute Samariter aus Samaria stammt, also in Judäa ein Ausländer war. Ausgerechnet dieser hat seine Hilfe angeboten und nicht der jüdische Pharisäer oder andere einheimische Passanten. Jesus ist wohl schon zu seiner Zeit aufgefallen, dass Ausländer ausgegrenzt wurden und hat ganz bewusst dieses Gleichnis erzählt, um hier Gegensteuer zu geben. In seinem späteren Leben als Erwachsener war er Wanderprediger und zog durchs Land von Norden nach Süden. Der Einzug in Jerusalem hat ihm aber kein Glück gebracht: auch hier gab es Politiker aus der Elite, die den Messias aus Galiläa gar nicht schätzten und ihn aus dem Weg räumen wollten. Aufrührerische Galiläer waren im Machtzentrum Jerusalem gar nicht beliebt. Hätte es zur Zeit Jesu bereits Ausländer-Kontingente gegeben, wäre es wahrscheinlich gar nicht zur Entstehung des Christentums gekommen. Das wäre allerdings aus heutiger Sicht sehr bedauerlich.

Jesus machte als Säugling einen Abstecher im Ausland und profitierte von der Personenfreizügigkeit

Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Jesus die ersten Monate seines Lebens nur überlebt hat, weil er zusammen mit Maria und Josef im ausländischen Ägypten Unterschlupf fand, so kann man sich die Wohltat der Personenfreizügigkeit für die Entstehung des Christentums vorstellen. Wenn zuhause ein Herodes wütet, ist die Flucht in ein anderes Land eine wichtige Alternative; in diesem Fall nicht eine Alternative für Deutschland, sondern eine ganz konkrete für die Heilige Familie. Die Bibel berichtet in vielen Geschichten von der Flucht, von Migration und Entbehrung, von der Ankunft im gelobten Land. Gerade die Hebräische Bibel ist getragen von dieser Grundbewegung der Migration. Es gibt sogar ein eigenes Buch, das unter dem Namen «Exodus» weltbekannt wurde.

Wenn ich «MEI» höre und lese, dann denke ich an die Aussage von Peter Henrici. Ich denke aber auch an die vielen Geschichten der Migration, die wir in den Heiligen Schriften des Judentums und des Christentums finden. Diese Tradition sollten wir ehren und ernst nehmen.

Peter Henrici, emeritierter Weihbischof von Chur | © 2012 Georges Scherrer
21. September 2016 | 18:22
von Charles Martig
Lesezeit: ca. 3 Min.
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