Rahels Grab an der Mauer
Bettina Flick

Rahel weint um ihre Kinder

Wir haben ein wenig Zeit in Bethlehem, Zeit um das Grab von Rachel zu besuchen. Rachel ist die einzige Patriarchenfrau, die nicht in Hebron bestattet ist, sondern in Bethlehem, direkt an der Mauer.

So machen wir uns auf in einer kleinen Gruppe. Zuerst müssen wir durch den Checkpoint auf die israelische Seite. Auch wenn ich so langsam Checkpoints gewöhnt bin, ist es immer wieder ein mulmiges Gefühl, durch den Metalldetektor zu gehen, den Pass vorzuweisen und eventuell befragt zu werden. Auf der anderen Seite gehen wir der Mauer entlang bis zu einem weiteren Checkpoint. Dort erklären uns die Soldaten, dass wir zu Fuss nicht weitergehen dürfen. Nur Autos oder Busse können zum Grab von Rachel gehen. I., die hebräisch versteht, fragt nach, warum, und bekommt zur Antwort: «Weil Sie nicht durchgehen können.» Nach dieser informativen Antwort wollen wir gerade aufgeben, als ein Soldat uns Zeichen gibt, dass er mit seinem Vorgesetzten telefonieren möchte. Aber auch da bleibt die Antwort: «Sie können hier nicht zu Fuss durch, weil Sie hier nicht zu Fuss durchgehen können.»

Wir gehen zurück zum ersten Checkpoint und suchen ein Taxi. Die Soldaten winken uns erleichtert zu, als sie uns in einem Auto sehen. Die Strasse, die nun vor uns liegt, überrascht uns: Nicht nur an einer Seite ist die neun Meter hohe Mauer, sondern auf beiden Seiten sind wir von der Mauer umgeben. Die nächste Überraschung war dann Rachels Grab. Ich hatte einen schönen Pilgerplatz erwartet mit einem schönen Gotteshaus – aber nichts Schönes war da. Einfach ein Kreisel am Ende der Sackgasse, ein kleiner Parkplatz, ein gesicherter Eingang zu einem Militärcamp und Verbotsschilder. Und ein paar Türen, gekennzeichnet für «Männer» bzw. «Frauen». Wir treten durch eine Tür ein und auch im Innern ist nichts Schönes. Ein schmaler Raum mit ein paar Synagogenbänken, weiter vorne ein Steinsarkophag, wie ich sie schon von Hebron kenne und viele betende Jüdinnen. Uns wird erklärt, dass dies vor allem ein Pilgerort für jüdische Frauen ist, die Rachel ihre Sorgen anvertrauen. Ich bedecke mein Haar mit einem Schal und gehe weiter nach vorne zum Sarkophag, um zu beten. Es ist ein spezielles Gefühl, mitten unter den betenden Jüdinnen jeglichen Alters zu stehen. Einige berühren den Sarkophag mit einer Hand oder mit ihrer Stirn, manche weinen, viele Gesichter haben einen sorgenvollen bis verzweifelten Gesichtsausdruck. Wieder zurück bei meinen Kolleginnen drücken wir alle unsere Betroffenheit aus. Wir suchen ein Taxi, um zurückzufahren, kehren durch den Checkpoint auf die palästinensische Seite zurück und gehen auf dort der Mauer entlang. Wir kommen zum Haus der Familie Anastas, das von drei Seiten von der Mauer umgeben ist. Jonny Anastas zeigt auf einen Spalt zwischen zwei Betonelementen der Mauer: «Schaut durch! Hier ist Rachels Grab!» Tatsächlich, direkt hinter der Mauer ist der kleine Parkplatz. Jonny erzählt uns, dass sein Haus vor dem Mauerbau an einer sehr belebten Strasse lag, der Hauptstrasse, die nach Jerusalem führte. In fünf Minuten konnte er zu seinem Vater gehen, der an der gleichen Strasse lebte. Nun hat die Mauer die Strasse abgelöst. Die Mauer läuft nicht entlang der sogenannten «green line», der Grenze, die von der UN als Grenze zwischen Israel und Palästina bestimmt wurde, sie liegt grösstenteils auf palästinensischem Gebiet. Und hier zeichnet sie so eine seltsame Schlangenlinie, damit Rachels Grab auf israelischer Seite liegt. Früher war es für alle zugänglich, schliesslich ist Rachel auch eine wichtige Frau in der christlichen und muslimischen Religion. Und wenn Jonny seinen Vater besuchen will, braucht er eine Sondergenehmigung, um israelisches Gebiet zu betreten. Weil er Christ ist, bekommt er sie zweimal im Jahr – zu Weihnachten und zu Ostern.

Beim Propheten Jeremia (Jer 31,5 zitiert in Mt 2,18) findet sich der Satz: «Rachel weint um ihre Kinder». Ich bin mir sicher, sie weint heute um und mit ihren jüdischen und palästinensischen Kindern!

 

Ich wurde von HEKS-EPER und Peace Watch Switzerland als Ökumenische Begleiterin nach Palästina und Israel gesendet, wo ich am Ökumenischen Begleitprogramm (EAPPI) des Weltkirchenrates teilnehme. Die in diesem Artikel vertretene Meinung ist persönlich und deckt sich nicht zwingend mit denjenigen der Sendeorganisationen. Falls Sie Teile daraus verwenden oder den Text weitersenden möchten, kontaktieren Sie bitte zuerst Peace Watch Switzerland unter eappi@peacewatch.ch.

Bildquellen

  • Rahels Grab an der Mauer| © Eva Salomon: Bildrechte beim Autor
Rahels Grab an der Mauer| © Eva Salomon
29. Dezember 2017 | 20:08
von Bettina Flick
Lesezeit: ca. 3 Min.
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