Unterschiedliche Beurteilungen

Zitat 1: Der emeritierte Churer Bischof Vitus Huonder teilt uns in einem vom «Certamen projekt – Der gute Kampf» veröffentlichten Video (24.04.) mit, dass nach seiner Meinung die Kirche zurzeit «in einer der grössten Krisen ihrer Geschichte … einer innerkirchlichen Krise, die alle Bereiche des kirchlichen Lebens erfasst hat, Verkündigung, Liturgie, Diakonie sowie Leitung … einer tiefen Glaubenskrise» steckt. Eine Diagnose, mit der noch viele andere einverstanden sind! Doch die Conclusiones, die Huonder dann zieht, sind erschreckend und erschreckend banal, er kündigt an, dass er seine bisherige Haltung zum Zweiten Vaticanum revidiert habe (er nennt es «retractatio»). Im Sinn des Gründers der Gemeinschaft, bei der er seit der Emeritierung wohnt, war das Konzil ein Sündenfall, darum gilt: Die Rettung der Kirche ist für ihn nicht nur das Zurück zur alten Liturgie, sondern die Wiederherstellung des «reinen unverfälschten Glaubens», der «wahren Lehre».

Zitat 2: Im Februar war ich eine Woche in den Exerzitien in Bad Schönbrunn. Nachdem das Schweigen (endlich für mich!) gebrochen war, konnte ich noch mit einem der prominenten Teilnehmer, Abt Benedikt Lindemann, früher Dormition Abbey in Jerusalem, heute in der Kamualdenser-Gemeinschaft bei Hildesheim, ins Gespräch kommen. Unsere Conclusio nach einer Woche Schweigen und Sinnieren war, dass unsere Kirche «noch nicht tief genug gefallen ist».
In meiner Sprache: Ihre Unfähigkeit, ihr Unwille, alle seit der «Konstantinischen Wende» angehäuften und übergestülpten Attribute von Macht, Patriarchat und Dominanz, alle in deren Gefolge zustande gekommenen Missbräuche jeder Art (geistig-seelischer, geistlicher, körperlicher Art) aufzuarbeiten und anzuerkennen, ist noch heute bis in die hintersten Zuckungen jeder Diözese und Pfarrei zu verspüren. Solange nicht der Wille besteht «ad fontes», d.h. zum Evangelium, zurückzukehren, hat diese Kirche jeden Kredit verloren.

Huonder (Lefebvre!) will die Kirche retten, indem er eine kleine Schar Rechtgläubiger (Männer – die Frauen hatten ja in dieser Kirche keine Rechte) aus der bösen modernen Welt zurück in die monarchisch-patriarchale der Zeit vor der Französischen Revolution und vor der Erklärung der Menschenrechte führt. Wahre Kleriker-Hirten mögen da ihre Schafe weiden und sie vor üblen Entwicklungen wie Gender, woke und was des Teufels sonst noch ist, bewahren. Die alte lateinische Liturgie ihrer ihnen den Rücken zuwendenden Anführer ist ihnen Balsam für die Seelen und wehrt böse Geister ab. Die katholikale Sekte eben.

Jesus von Nazareth ging es um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit. Vehement lehnt er jeglichen rituellen und moralischen Rigorismus ab, ja droht ihm (»Weh Euch»). Vehement stellt er sich gegen die Inanspruchnahme von Macht und Autorität durch irgendwelche Amtsträger (»Bei euch soll es nicht so sein»). Und vehement ruft er seine Jünger zu Gewaltlosigkeit in Reden und Tun auf. Die Heiligen der frühen Kirche waren die Märtyrer/innen, die sich dem totalitären Staat und seinen Ansprüchen entgegensetzen. Das sind die «fontes», das ist wenn schon der «unverfälschte Glaube», und sicher nicht der CIC und auch nicht die pingelige Ansammlung aller Dogmen und Morallehrsätze in ledernen Bänden.

Ist unsere Kirche noch zu retten? Wir werden auf jeden Fall quantitativ massiv schrumpfen, aber wohin, zur Sekte oder zu Boten/innen des Reiches Gottes, wie der Gründer schon forderte?

Heinz Angehrn

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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