Ganz Anderes: Popper, Teil II

Ausgehend von Kant, sowohl von seiner Erkenntnislehre wie von seiner Ethik, erarbeitete Popper nun eine bis heute nachhallende und immer wieder zutreffende Definition einer Differenz, mit der sowohl die grossen Denker der Menschheitsgeschichte wie auch Gesellschaften und Staaten beschrieben werden können. Seine Ausführungen zu den ersteren (Plato und Hegel etwa) sind zwar interessant, aber für unsere drängenden Fragen der Jetztzeit nichts als Prolegomena. Das zweite hingegen ist brandaktuell: Es geht um die geschlossenen und die offenen Gesellschaften, um totalitäre Systeme und um die toleranten Demokratien. Doch so billig, wie das tönt, ist es nicht zu haben.

Machen wir deshalb noch einen kurzen Umweg durch die Philosophiegeschichte und beschäftigen wir uns mit der klassischen Erkenntnislehre im Sinne von Kant und Wittgenstein. Nichts hätte der homo non semper sapiens nämlich lieber als absolute Sicherheit(en). Dies gilt für alle wesentlichen Bereiche des Lebens, also für Wissenschaft, Kultur, Religion, Moral, Politik und Recht. Denn nichts hasst der homo non semper… mehr als Unsicherheit und die Antwort, dass es keine absolute Wahrheit geben kann und je geben wird. Begeistert stürzt er/sie sich auf alle Rattenfängerinnen und Ideologen, die solches verkünden. (Vergessen wir etwa nie, dass wohl mehr als 90% der damals Zuhörenden auf Goebbels Frage, «Wollt Ihr den totalen Krieg?», freiwillig und begeistert mit Ja zurückgeschrieen haben.)
Kant und nach ihm Wittgenstein machten deutlich, dass es absolute Wahrheit nur innerhalb geschlossener künstlicher Systeme geben kann. Solche sind etwa die Mathematik, ein in sich völlig logisches System, aber nicht die Natur- und Geisteswissenschaften. Solche sind auch die einzelnen Religionen und Konfessionen insofern, als dass in ihnen ein künstliches System von definierten und absolut geltenden Dogmen, die nicht hinterfragt werden, existiert. Ob es aber Gott wirklich gibt, wie der Mensch Religion leben soll, was für Normen absolut gelten, dies als für alle allgemeingültige Antwort, kann weder mit Ja noch Nein beantwortet werden.

Doch das verwirrt und verunsichert. Und da setzen alle totalitären Systeme und ihre Demagogen/innen an. Frech behaupten sie, manchmal mit nationalistischen, manchmal mit esoterischen, manchmal auch mit religiösen Untertönen, die Wahrheit zu besitzen. Solches Denken und Argumentieren nennt Popper «geschlossenes» bzw. (natürlich) «ausschliessendes».
Eine «offene» bzw. eine «inklusive» Gesellschaft hingegen ist ein unglaublich anstrengendes Unterfangen, weil hier der grossen Mehrheit der Mitglieder zugemutet wird, mit Unsicherheiten dauernd zu leben, «Multikulturalität», «Multireligiosität», ja ein Nebeneinander von ethischen Wertsystemen, als Preis für Freiheit und Unabhängigkeit zu akzeptieren.

Man(n) mag die Reichsbürger, die Piusbrüder, die Kreationisten, die Covidleugner ja irgendwie noch als ulkige Erscheinungsformen dieser offenen Gesellschaft sehen, doch weh uns allen, gelänge es ihnen, Mehrheit zu werden.

(Ein PS aus einer aktuellen NZZ: Martin Grichting fällt über die offene Gesellschaft her und spricht mit Blick auf das Christentum – im Ernst! – von «spirituellem Edelschrott», von «salbadern» und «schwadronieren». So tönt es, wenn nicht nur in Sparta und Potsdam, sondern in Chur die Panik ausbricht: Es könnte ja sein, dass wir nicht recht hätten. Wäre das so schlimm, verehrter Mitbruder?)

Heinz Angehrn

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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