Sehnsucht nach Unendlichkeit

Auguste Rodin – Gebannte Lebendigkeit

Der Denker ist wohl unumstritten das meistzitierte Werk des Bildhauers Auguste Rodin. Der Franzose mit dem imposanten Bart und dem geheimnisumwitterten Blick hat diese Skulptur ursprünglich als Bestandteil seines Höllentors geplant. Ihr ursprünglicher Name war der Dichter und eine Hommage an den wortgewaltigen Dante Alighieri, welcher mit seiner Göttlichen Komödie in der europäischen Literaturgeschichte einen unumstösslichen Markstein gesetzt hat. Seine schauderhaften Schilderungen der neun Höllenkreise und der darin vorfindlichen Mixtur aus verräterischer Bosheit und derber Hemmungslosigkeit, standen für Rodins Höllentor Pate. Nachdem die Fertigstellung, des ursprünglich für ein Designmuseum entworfenen Eingangsportals sich mühsam in die Länge gezogen hat, haben sich einzelne Figuren aus dem Gesamtkunstwerk emanzipiert und ein ruhmreiches Eigenleben entwickelt. Der Denker ist eine davon.

Der Denker fasziniert Menschen rund um den Erdball. Er ist zum Sinnbild des über sein eigenes Schicksal grübelnden Menschen geworden. Rainer Maria Rilke bemerkt zu dem Kunstwerk: «Sein ganzer Leib ist Schädel geworden und alles Blut in seinen Adern Gehirn». Rodins Atelier war bevölkert von nackten Menschen. Doch nicht der ungezähmte Eros des Lüstlings ist hier am Werk, sondern eine unstillbare Faszination für die ausgefeilten Details des menschlichen Körpers. Rodin war ein Meister der Modellierung eines lebendigen Ausdrucks in der Starrheit unbeweglicher Materie. Die Emotionen spiegeln sich in den Furchen und Einkerbungen der Körperoberfläche. Das nackte Fleisch wird zum Medium des menschlichen Innenraums. Die Reflexe geistiger Vorgänge flackern wie ein Schimmerlicht auf der Hautoberfläche. Alle Muskeln des Körpers reagieren auf die psychische Veränderungen, äussert Rodin im Gespräch mit Paul Gsell. Der Künstler hat die Aufgabe den Betrachter seiner Werke von den äusseren Formen zu den innwendigen Wahrheiten zu führen. Daher vermag der Bildhauer auch ein authentisches Bild des Menschen hervorzubringen, wirklichkeitsgetreuer als die mit einer Fotografie ermöglichte Momentaufnahme. Diese ausdrucksstarke Lebendigkeit ist der Zauber von Rodins Artefakten. Im Kreisen der Gedanken über die Bedeutung der eigenen Sterblichkeit weist der Denker auf die Unruhe des menschlichen Geistes. Doch wohin könnte dieser Denkweg führen?

Hans Arp – Schöpferische Imaginationen

Antwortversuche finden sich im Werk Hans Arps. Dieser ist einer der Gründungsväter des losen DADA-Netzwerks, welches von der Spiegelgasse in der Zürcher Altstadt Teile der Welt erobert hat. Abgeschreckt von den dunklen Facetten der Zweckrationalität, welche in die Schützengräben von Verdun geführt haben, entwickelte der Dadaismus ein Lobgesang auf die Unvernunft. Dada kann verstanden werden als kindlicher Urlaut. In diesem Sinne sind auch die Collagen und Reliefs aus Arps Frühwerk zu lesen. Wenn Arp Quadrate, nach dem Gesetz des Zufalls anordnet, dann ist dieser Zufall ein Vakuum für das potenziell Zuzufallende. In der Unerklärbarkeit des Zufalls entspringt ein Möglichkeitsraum für göttliche Inspirationen. Wenn die Surrealisten im Zufall eine Möglichkeit zur Sichtbarmachung des Unbewussten erblicken, so ist für Arp das Kontingente eine Luke in die Transzendenz. Deshalb hat sich Arp trotz mancher Annäherungsversuche auch nie ganz unter die Surrealisten subsumieren lassen.

Eine einschneidende Zäsur in Arps Werk bildet der Tod seiner ersten Frau Sophie Taeuber-Arp. Eine Frucht davon sind die sogenannten papiers dechirés. Als er auf dem Dachboden nach alten Collagen aus der Dada-Zeit sucht, bemerkt er wie das Papier über die Jahre matt geworden und aufgedunsen ist. Die Hinfälligkeit des Papyrus wird ihm zum Symbol für die menschliche Vergänglichkeit. Er ordnet das durch den Zeitverlauf geschundene Papier neu an und verleiht der unheimlichen Allgegenwart des Morbiden einen bleibenden Ausdruck. Der Tod wird Arp zur Inspirationsquelle, darin gleicht er der sinnierenden Figur Rodins. In seinem Spätwerk gewinnt dann die ovale Form als Zeichen der Wanderbarkeit und Imperfektion an Bedeutung. Aus ihr entsteht ein mannigfaltiger Kosmos aus biomorphen Formen mit illustren Namen wie Wolkenhirt oder Torso mit Knospen. Darin liegt das Kernelement der arpschen Kunstauffasung: Der Künstler ist kein Nach-Bilder vorgefundener Objekte, sondern er bildet aus dem Fundus seiner Kreativität neue Formen. In diesem Zusammenhang gewinnt die Leerform Wichtigkeit in seinem Schaffen. Perforierung ist der künstlerische Akt der Durchlöcherung eines Gebildes. Der leere Raum ist so mit negativ behaftet. Er entsteht als Fehlform von Etwas zuvor Dagewesenem. Dies bedeutet wiederum eine Abwertung des Nichts. In der Bibliothek von Arp fanden sich Abhandlungen von Meister Eckhart. Dieser versucht dem Nichts als metaphysische Instanz einen positiven Wert abzugewinnen. Das Nichts als Freiraum der Unverfügbarkeit des Göttlichen. Dieser Leerraum wird so zum Platzhalter für die Hoffnung des Menschen auf Unsterblichkeit.

In diesem Sinne ist auch das im Titelbild abgebildete Werk Der Stern zu verstehen. Arp hat ihn als Monument über seiner Grabstätte aufrichten lassen. Der Stern ist der Ort, auf welchem die Toten neuen Heimatboden betreten. Er funkelnder Zeuge der Unendlichkeit. Der Stern ist der Hafen, in welchem die zermürbenden Denk-Wellen von Rodins Figur Ruhe finden dürfen. Der Stern steht für die wage Hoffnung des Menschen, dass mit dem Tod das Schauspiel des Lebens noch in einen weiteren Akt einmündet und der Vorhang nicht endgültig gefallen ist. Der Stern ist damit auch ein Tasten nach dem Evangelium. Der Vorhang ist zerrissen.

Gian Rudin

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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