Das Ringen um Segen und die Sünde

Gestern hatte ich zwei erhellende Erlebnisse rund um das Thema Segen.

Das Erste liess mich schmunzeln: das Team des Pridegottesdienstes hatte ein Meeting zur Vorbereitung des ökumenischen Gottesdienstes zur Zürich Pride am 20. Juni. Für den Gottesdienst wählten wir die Stelle in Genesis 32, 23-32, wo Jakob mit Gott um den Segen ringt. Die Stelle beginnt mit einer Beschreibung, wie Jakob seine beiden Frauen und deren Mägde mitsamt deren Kinder über den Fluss setzt. Alle zehn Kinder der vier Frauen sind Jakobs leibliche Kinder. War Jakob deshalb ein vor Gott sündiger Mensch? Nichts davon steht in den Schriften über unseren Stammvater. Wir können daraus ableiten, dass uns die Bibel eine Vielfalt von Lebensformen vorstellt und dass die Vorstellung von dem, was sündig ist, historischen Veränderungen unterliegt.
Also ist auch die Vorstellung revidierbar, dass Sexualität nur in einer Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau – mit der ausdrücklichen Option Leben zu zeugen – heilvoll sein könne und ansonsten nur enthaltsames Verhalten gottgewollt sei.

Begründet wird die Ablehnung des Segens für für andere Formen von Beziehungen mit dem Argument, man könne nicht segnen – das heisst gutheissen – was sündig sei. Aber schauen wir genauer hin, was Sünde ist. Es gibt eine ethymologische Herleitung des Wortes Sünde von «Sonderung», Abgeschnittensein, Nichtverbunden-Sein. Das drückt für mich das Wesen der Sünde bestens aus. Sünde ist nicht eine einzelne Tat, sondern eher ein Zustand, in dem ich die heilsame Verbindung zur göttlichen Lebensquelle, zu meinem tiefsten Inneren und zu Anderen verloren habe. Und weiss Gott gibt es in Liebesbeziehungen viele Phänomene, die genau dieses Nichtverbunden-Sein ausdrücken und fördern und so zu lieblosem und verletzendem Verhalten führen.

Aber das betrifft alle Formen von Liebesbeziehungen. Und es betrifft auch die Kirche selber. Mit ihrer Haltung gegenüber Formen von Sexualität, die nicht ihrer Norm entsprechen, lädt sie Menschen ein, sich in ihrer tiefsten Identität selber abzulehnen. Damit unterstützt sie gerade sündhafte Zustände, nämlich nicht verbunden zu sein mit seinem innersten Kern und seiner Identität. Sie hilft mit, jahrtausendealte Verletzungen fortzuschreiben. Und das mit mageren Argumenten.

Damit bin ich bei meinem zweiten Erlebnis von gestern. Dieses hat mich nicht zum Schmunzeln gebracht, sondern zum Weinen. Ich schaute auf SRF1 die DOK «Hass gegen LGBTQ+». 

Es ist sehr erschütternd, was Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität noch heute an Gewalt erleben müssen.

Die Kirche trägt mit ihrer Haltung zu Fragen von Sexualität und Gender dazu bei. Es ist höchste Zeit ihr sündiges Verhalten einzugestehen und zu verändern.

Auf Facebook hat jemand einen interessanten Kommentar hinterlassen zum 2. Teil unseres URBN.K-Videos zu queeren Themen.

Er fragt:

Ist Gott nicht immer derselbe? Dann können sich seine Massstäbe doch nicht im Laufe der Zeit ändern! Dann muss doch das, was einmal Sünde war, immer Sünde bleiben?

Ich beantworte diese Frage wie folgt: nein, was einmal Sünde war, muss nicht immer Sünde sein.  

Ich bin überzeugt, dass die Kirche hier neu über Sünde nachdenken muss, und zwar über ihre eigene.

Es gibt Studien, die belegen, dass in Ländern, in denen es eine rechtliche Form der Ehe für alle gibt, bei queeren Menschen die Suizidalität sinkt und die psychische Gesundheit sich verbessert. Das ist Motivation genug, für ein heilsameres Leben einzutreten und die Ehe für alle zu befürworten.

Wir müssen uns auch daran gewöhnen, dass wir als Kirche nicht mehr die Deutungshoheit über Begriffe haben. Die katholische Kirche darf weiterhin dezidiert ihre Vorstellung von sakramentaler Ehe vertreten und dieses Sakrament auch nur Menschen spenden, die dieser Vorstellung entsprechen. Aber auch außerhalb dieses Rahmens gibt es viel erfülltes Liebes- und Beziehungsleben. Der Staat tut gut daran, diese Formen rechtlich zu stärken. Das darf die Kirche anerkennen. Und sie darf diesen Formen auch ihren Segen geben.

Meinrad Furrer

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.blogs-kath.ch/das-ringen-um-den-segen-und-die-suende/