Paulus, der Zwangsgestörte?

Auf einer trialogischen Tagung, auf der sich Betroffene psychischer Erkrankungen, Angehörige und Fachpersonen auf Augenhöhe austauschten, erlebte ich einen ebenso eindrücklichen wie bedrückenden Vortrag: Eine Frau berichtete von ihrer Schwester, die seit ihrer Jugend unter schweren Zwangsstörungen litt. Sie musste immer und immer wieder bestimmte Handlungen ausführen, die ihr nicht nur selbst das Leben zur Qual machten, sondern auch für ihre Angehörigen ein Zusammenleben mit ihr verunmöglichten. Jahrelange Therapien brachten keine dauerhafte Besserung, so ging es darum, einen Ort zu finden, wo sie mit ihren Zwängen leben konnte. Es stellte sich als unmöglich heraus, eine Einrichtung zu finden, wo die Frau ein Leben führen konnte, das für sie einigermassen erträglich war. Am Ende sah sie nur noch den Suizid als Ausweg. Und ihre Schwester berichtete uns von dem Gefühl der Erleichterung und Befreiung, das sie erlebte, nachdem sie von ihrem Tod erfahren hatte – weil das Leiden ihrer Schwester vorüber war, aber auch, weil sie selbst leben konnte, endlich wieder.*

Zwänge können einem das Leben sehr schwer machen. Schon in ihrer leichteren Form, in der sie noch kontrollierbar sind – ich bekämpfe meinen derzeitigen Corona-Nachrichten Zwang, indem ich mir wiederholt sage, dass der Bundesrat bedauerlicherweise seine Entscheidungen immer noch trifft, ohne vorgängig meinen Rat einzuholen, und ich infolgedessen nicht jederzeit top informiert sein muss. Aber anstrengend ist das schon.

Da verwundert es, dass Paulus (im 1. Korintherbrief, Kap. 9, Vers 16, Lesungstext an diesem Wochenende) ganz zufrieden damit scheint, dass er das Evangelium nicht aus freier Entscheidung verkündet, sondern sich dazu gezwungen sieht. Ein Zwangsgestörter? Der die Freiheit vom Gesetz, die ihm so wichtig war, selbst als Unfreier predigte, weil er den Druck aus seinem Inneren nicht anders bewältigen konnte? Gut möglich, dass Paulus hier nicht aus Höflichkeit begründet, warum er auf einen Lohn verzichtet, sondern beschreibt, was er tatsächlich erlebt. Zu einer Zwangsstörung, fehlt ihm jedoch ein wesentliches Merkmal: So Seltsames ein Mensch erfährt und wie er sich auch verhält, zur Diagnose einer psychischen Erkrankung gehört, dass sie Leiden verursacht. Entweder für den Betroffenen selbst, oder doch zumindest für die Menschen seiner Umgebung. Genau das war bei Paulus offensichtlich nicht der Fall: Seine Mitmenschen konnten mit ihm leben, und er selbst fand seinen Zwang vielleicht produktiv, vielleicht erlebte er ihn sogar als Geschenk Gottes. Mit diesem Zwang, vielleicht deswegen, ist er zum Apostel der Heiden geworden, ohne den das Christentum vermutlich eine jüdische Sondergruppe geblieben wäre.

*Falls Ihnen das Themas Suizid zu nahe ist: Schon auf der Tagung waren wir uns einig, dass ein solcher Verlauf aussergewöhnlich ist. Die meisten suizidalen Krisen sind vorübergehend und/oder behandelbar. Lassen Sie sich helfen. Ein guter Anfang kann die Dargebotene Hand unter Tel. 143 / 143.ch sein.

Karin Reinmüller

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.blogs-kath.ch/paulus-der-zwangsgestoerte/