Die eigene Meinung ist antastbar

Dies nun der sechste Leitsatz aus der NZZ-Selbstdeklaration. Er dreht das vor einer Woche hier Gesagte einfach um 180 Grad und blickt auf den Sprechenden bzw. Schreibenden selber. Wenn es schon in der grossen Welt der Lehren und Vorstellungen keine einzige Wahrheit gibt, die nicht diskutiert, theoretisch ins Gegenteil gekehrt und auch als Ganze bestritten werden darf, gerade auch nicht die von grossen und würdigen Institutionen verkündeten Wahrheiten und Dogmen, dann gilt das um so mehr für den subjektiven Gebrauch von Sprache durch das einzelne Individuum. Eine Form von geistiger Demut ist gefragt, die wir aber alle nicht gerne leisten. Die aufgeheizte, nach Sensationen gierende Medienwelt, in der wir leben, fördert und fordert ja geradezu Grossmäuler maskulinen und femininen Geschlechts, die ihre «Meinungen» im Brustton absoluter Überzeugung verkünden.

Dies genügt eigentlich schon zur Exegese dieses Leitsatzes. Doch juckt es mich nun in allen Fingern und grauen Zellen, einige Anwendungen vorzulegen. Man(n) verzeihe mir den Spass.

a) Beginnen wir beim absolut Harmlosesten und auch beim Schreibenden selber. Wenn ich zu gewissen mastigen, hochprozentigen und geradezu süsslichen Rotweinen wie etwa fast allem, was unter dem Namen Amarone bei und über 15% kreucht und fleucht, sage: «Das ist ein schlechter/unangenehmer/unpassender… Wein», verstehe ich das natürlich nicht als önologisches Dogma, sondern meine ganz einfach und plump: «Der schmeckt mir nicht». Das könnten wir nun weiter an vielen ästhetischen Exempeln (Musik, Kunst, Theater. Film) fortführen.

b) Wenn wir dann das Auftreten und Argumentieren mancher der alten weissen Patriarchen (aber nicht alle alten weissen Männer sind so, nicht wahr, man vergleiche Leitsatz zwei) wie etwa der Herren Blocher und Trump beobachten, dann sehen wir auch, wie viel Unheil ein so überzogenes Mass an Überheblichkeit und Selbstüberschätzung schon politisch angerichtet hat. Und weit schlimmer: Dass sich ein Teil der Wählerschaft richtiggehend angezogen fühlt, wenn so argumentiert wird. (Was wohl auch den Erfolg von seriösen religiösen Anführern und unseriösen Rattenfängern im selben Feld erklärt.)

c) Und schliesslich wollen wir alle ja auch nicht Wendehälse oder Weicheier genannt werden. Noch schlimmer als die, welche sich nicht bestreiten lassen, sind immer und zu allen Zeiten die gewesen, die ihre Meinung ständig ändern und das Fähnlein nach günstigen Winden hängen.

(Nochmals das PS zum Schluss: Ob die Zeitung, die diesen sechsen Leitsatz formuliert hat, sich in den vergangenen Jahrzehnten auch selber immer so verhielt, kann diskutiert werden.)

Heinz Angehrn

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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