Vor dem Urknall! Die verblüffende Geschichte des Multiversums

Vor wenigen Jahren war das Weltbild der KosmologInnen erfreulich intakt – das Universum entstand vor gut 13 Milliarden Jahren durch einen Urknall, der mit der Materie auch Raum und Zeit erzeugte, so dass es keinen Sinn macht, von einer Zeit «vor dem Urknall» zu sprechen. Für TheologInnen hatte diese naturwissenschaftliche Sicht den Vorteil, dass sie sich mit der Vorstellung eines Schöpfergottes recht einfach vereinbaren liess: Gott ist ewig, aber das Universum hat zumindest einen Anfang, den Gott durch seinen Willen frei gesetzt hat (mit dem Ende war es schon immer etwas schwieriger).

Inzwischen hat sich die Wirklichkeit als komplizierter herausgestellt. Unser Universum macht nicht mehr überzeugend den Eindruck, als sei es aus einem punktförmigen Zustand entstanden und würde sich seitdem in etwa so ausdehnen wie es das heute noch tut. Das liegt vor allem an zwei Beobachtungen:

Die eine: Das Universum sieht überall gleich aus, wohin wir auch schauen. Genauer gesagt, wir können mit Teleskopen kosmische Hintergrundstrahlung finden, die aus zwei (von der Erde aus gesehen) entgegengesetzten Richtungen kommt und jeweils recht kurz nach dem Urknall entstand. Diese Strahlung ist also jeweils gut 13 Milliarden Jahre unterwegs gewesen, um uns zu erreichen. Wir können beide Regionen «sehen», die Ausserirdischen dieser Regionen (wenn es sie denn gibt) können aber jeweils mit ihren Teleskopen nur die Hintergrundstrahlung aus der Gegend empfangen, in der heute die Erde liegt. Sie können sich gegenseitig nicht wahrnehmen und konnten das vor allem auch nie, weil die Entfernung zwischen ihnen 2*13, also 26 Milliarden Lichtjahre beträgt – die Strahlung oder sonst irgendeine Information, die maximal mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs sein kann, würde länger brauchen, als Zeit seit dem Urknall vergangen ist. Unter diesen Umständen ist es erstaunlich, dass sich unterschiedliche Weltregionen nicht unterschiedlich entwickelt haben, so wie schon auf der vergleichsweise winzigen Erde die Kontinente mit ihren eigenen Klimazonen, Pflanzen und Tieren.

Die zweite: Das Universum sieht sehr flach aus. «Flach» meint hier, es ist nicht gekrümmt in eine vierte Raumdimension. So, wie die gekrümmte Erdoberfläche dafür sorgt, dass man mit lange genug geradeaus-Reisen wieder am Ausgangspunkt ankommt, so würde das in einem positiv gekrümmten Universum mit einer Rakete funktionieren, die gradeaus in den Himmel gestartet würde. Irgendwann käme sie wieder – lange, nachdem die Erde nicht mehr existiert. Zum Glück lässt sich die Krümmung des Universums mit anderen Mitteln messen, und die zeigen Seltsames: Wir sehen nur Flachheit – obwohl ein flaches Universum aussordentlich fein austarierte Naturkonstanten erfordert.

Bevor Gott als «Deus ex Machina» für die Feineinstellung der Naturkonstanten bemüht werden muss, haben die KosmologInnen eine bessere Idee: Inflation. Damit meinen sie keine Geld- sondern eher eine Raumentwertung. Der Urknall, so diese Theorie, war gar nicht der Anfang von allem. Stattdessen hat sich der Raum selbst (und mit ihm alles, was ist) VORHER mit Überlichtgeschwindigkeit ausgedehnt, und zwar exponentiell immer schneller werdend (was exponentielles Wachstum bedeutet, ist dieses Jahr immerhin allgemein bekannt). Nach einer für unsere Verhältnisse sehr kurzen Zeit wurde diese Inflations-Phase beendet und der Urknall begann. Das hat zur Folge, dass die Gesamtheit dessen, was ist, deutlich grösser ist als unser beobachtbares Universum. Damit erscheint es flach, auch wenn es vermutlich in Wirklichkeit gekrümmt ist – ähnlich wie die Oberfläche der Erde ebenfalls flach aussieht (wenn man nicht in den Alpen wohnt). Und es leuchtet auch sofort ein, warum es überall gleich aussieht: Alle Gegenden, die wir sehen könnten, waren zur entscheidenden Zeit miteinander in Kontakt – nämlich vor dem Urknall, während der Inflation.

Eine sympathische Theorie. Die aber, wenn man sie weiter denkt, auch einige Kanten zu bieten hat: In unserem Universum ist die Inflation zum Stillstand gekommen (übrigens durch einen Mechanismus, der erst noch entdeckt werden muss), aber wer sagt, dass das alles ist? Was spricht dagegen, dass es Weltgegenden gibt, in denen die Inflation weiter fortschreitet, dass der Raum sich ausserhalb der Grenzen unseres Universums immer noch exponentiell wachsend ausdehnt? Dann wäre unser Universum eine geschützte Blase (oder auch ein Loch in einem wachsenden Emmentaler) in einem inflationären Multiversum – in dem es keinen Grund gibt, nicht weitere Universen anzunehmen, die ebenfalls inflationsfreie Zonen bilden.

Dramatisch wird es, wenn man dann noch an die Zeit denkt: Die entsteht jetzt nicht mehr praktischerweise mit dem Urknall aus dem Nichts, sondern sie ist, wie das gesamte Multiversum, immer schon da. Ewig. Was bedeutet, das es jedes mögliche Universum schon gegeben hat oder noch geben wird – wenn man ewig Zeit hat, kann nicht nur alles passieren, da passiert auch alles.

Spätestens jetzt ist es für TheologInnen mal wieder schwieriger geworden, Glaube und Naturwissenschaft zusammenzubringen. Denn ein durch Inflation entstandenes Universum ist nicht als Schöpfung aus dem Nichts vorstellbar – es war vorher schon was da, womöglich ebenso ewig wie Gott, wir wissen nur nicht, was. Könnte sein, dass wir in einiger Zeit das ewige Multiversum als einen Teil des ewigen Gottes verstehen werden. Könnte sein, dass wir auf ganz andere Gedanken kommen – lohnen wird es sich ziemlich sicher.

Karin Reinmüller

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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