«Rückkehr nach Lemberg»

Parallel zum Doktor Faustus und zur durch ihn aufgeworfenen Frage einer Komplizenschaft des deutschen Volkes mit dem Bösen im Dritten Reich habe ich Philippe Sands 2016 erschienenes, in kein Genre passendes Buch «Rückkehr nach Lemberg» (S.Fischer) gelesen, eine faszinierend-schillernde Mischung zwischen Familiengeschichte, juristischer Dokumentation und historischer Recherche. Sands, ein 1960 als Engländer mit jüdischen Wurzeln geborener Völkerrechtler, der sich in den letzten Jahrzehnten mit diversen Kriegsverbrecher-Prozessen (Ruanda- Ex-Jugoslawien) beschäftigt hat, arbeitet am Beispiel einer Täter-Biographie (Hans Frank, der Generalgouverneur für die polnischen Gebiete) und dreier Opfer-Biographien (zwei Juristen, deren Familien ausgerottet wurden, die aber selber das Glück hatten, in England und den USA zu überleben; sowie der eigene Grossvater, der in Paris bis 1944 über die Runden kam) die Entstehung der juristischen Begriffe «Genozid» und «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» und deren Aufnahme in den Anklagekatalog des ersten grossen Nürnberger Prozesses auf. Bis in Detailfragen hinein verbeisst er sich dabei auch in die rein persönlichen Motive seiner Protagonistenfamilien und sucht Interviews mit Nachfahren, sowohl die der Täter wie der Opfer.

Entstanden ist ein starkes, süffig zu lesendes Werk, aufgebaut wie ein Krimi und zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her wechselnd. Der Titel erklärt sich aus der Tatsache, dass die heutige ukrainische Stadt Lwiw, polnisch früher Lwow, in der Donaumonarchie bis 1918 noch Lemberg, ein Kristallisationspunkt aller vier Biographien ist: die Opfer lebten bzw. studierten dort, der Täter hielt dort mitten in der Vernichtung der Juden Reden. Sands spricht immer wieder vom Willen der wenigen Überlebenden, zu vergessen, die Zeit vor 1945 für ihre Nachkommen unkenntlich zu machen, umgekehrt schildert er die verzweifelten Versuche, wie Täter-Söhne sich mit ihren Täter-Vätern zu versöhnen versuchen.

Sehr lesenswert, ungemein spannend! Nachdenklich (und Sands provoziert diesen Gedanken auch ganz bewusst, indem er immer wieder darauf hinweist, dass die damals erarbeiteten juristischen Termini lange nicht für alle Opfer-Kategorien galten/gelten, in den USA etwa nicht für die Schwarzen und die Indianer, in der gesamten westlichen Welt nicht für Homosexuelle) stimmt die saubere Recherche des Autors, dass zwei der vier Protagonisten, der Täter und der eigene Grossvater, ihre Homosexualität verdrängen und Pseudo-Ehen eingehen mussten, unter denen sie zeitlebens litten.

Heinz Angehrn

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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