Doktor Faustus

In fortgeschrittenem Alter habe ich es nun unternommen, in das wohl wichtigste der Alterswerke von Thomas Mann hineinzuschauen. Es sei zunächst eingestanden, dass die Lektüre mühsam ist. Des Autors Hang zu gewaltigen Ab- und Ausschweifungen hat sich massiv verstärkt; dem/r Lesenden werden seiten-, ja kapitel-lange Exkurse in die Philosophie-, Musik- und Literaturgeschichte zugemutet.

Das Werk, von dem Mann später selber schreibt, er sei darob fast gestorben (er muss damit Ausbruch und Behandlung seines Lungenkrebses in den USA meinen), ist monströs. Dementsprechend hat es auch verschiedene, zum Teil auch monströse Deutungen erfahren. Der Ich-Erzähler, Altphilologe und Professor Serenus, ein biederer bürgerlicher Langeweiler mit Ehefrau und Tochter, erzählt uns ja die Lebensgeschichte seines besten Freundes, des 1940 an den Spätfolgen der Syphilis verstorbenen avantgardistischen Komponisten Adrian Leverkühn, der seine Genialität einem quasi faustischen 24jährigen Bund mit dem Bösen verdankt. Serenus, als klarer Antipode gezeichnet (Vernunft und Gefühl, Bürger und Künstler – die alten Mann’schen Themen) fühlt sich ihm ein Leben lang verbunden, sieht sich (warum, wird nie offenbart) verpflichtet, um die Seele des Freundes zu kämpfen.

Dies erzählt Serenus in einer Jetzt-Zeit, der Zeit um und nach 1943, in der die deutsche Niederlage und der Zusammenbruch des Systems immer offensichtlicher werden und verhehlt seine Abneigung gegenüber dem System in keiner Art und Weise. Diese eigentümliche Bauweise des Werkes hat nun zu m.E. überzogenen Deutungsversuchen geführt. Etwa so: Für Mann sei der Bund des Adrian mit dem Bösen Abbild des Bundes des deutschen Volkes mit dem bösen System. In beiden obsiegt das archaisch-naturhaft Destruktive über den Geist und seine Möglichkeiten.

Ich kann dem nicht zustimmen. Ich bin der Meinung, dass die zeitgebundene Situation des Ich-Erzählers Serenus exakt der zeitgebundenen Situation des Verfassers Thomas Mann entspricht; ihr Abscheu gegenüber dem Nazitum ist quasi identisch. Leverkühn aber, von manchen Deutenden einmal mit dem Juden Schönberg oder dem Christenfeind Nietzsche gleichgesetzt – auch das nur beschränkt gültige Konstruktionen – ist ein Unikat der Literaturgeschichte, nach Tonio Kröger, Christian Buddenbrook, Hanno Buddenbrook, Gustav von Aschenbach und noch mehreren wieder einer dieser unglücklichen Mann’schen Looser, aber wohl der gestrafteste. Seine Schuld? Persönliche Kälte und Arroganz, mehr nicht. Derlei Menschen gibt es immer wieder. Doch ihm hat das Schicksal eine syphiliskranke Hure als einzige Geliebte zugeteilt, und mit ihr ist der Pakt mit dem Bösen schon vollzogen (anders als bei Goethe), bevor er überhaupt verhandeln könnte.

Sehr speziell! Nochmals (auch der alte Mann verliebte sich noch ohne Hemmung trotz anwesender Ehefrau in jedes junge blonde männliche Wesen, dem er nur zufällig begegnete) diese Panik, dieses Verdrängen, diese permanente Selbstrechtfertigung, dass er doch widerstanden habe.

Hat er vielleicht, aber mit welchen Opfern für seine unseligen Kinder. Serenus Mann – nicht der Vater, den man(n) sich wünscht.

Heinz Angehrn

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.blogs-kath.ch/doktor-faustus/