Wenn Wahn Sinn macht

«Wer Visionen hat, sollte zum Arzt» – sowohl dem österreichischen Bundesklanzler Franz Vranitzky als auch dem deutschen Kanzler Helmut Schmidt wird dieses realpolitische Statement zugeschrieben. Sacharja, der Prophet, aus dessen Schriften die für letzten Sonntag vorgesehene Lesung stammt, hat offensichtlich keinen Grund gesehen, sich an einen solchen Ratschlag zu halten. Er bechreibt eine sich vor Kreativität überschlagende Vision nach der anderen, darunter einer fliegende Schriftrolle und eine Frau in einem Fass, dass von zwei weiteren Frauen mit Storchenflügeln in den Himmel davongetragen wird. Erst versteht er die Bilder nicht, die er sieht, dann kann er sie deuten, nicht nur für sich selbst, sondern vor allem für seine Mitmenschen, denen er immer wieder zusagen kann, dass Gott Gerechtigkeit und Heil schafft.

Noch einige tausend Jahre später, am Beginn der Neuzeit im 16. Jahrhundert, schreibt Ignatius von Loyola völlig selbstverständlich in seiner Autobiografie von seinen Visions-Erfahrungen, denen er richtungsweisende Lebensentscheidungen verdankt. Bemerkenswerterweise ordnet er eine penetrant wiederkehrende Vision nach einiger Überlegung als «vom Bösen» ein, vor allem, da sie ihn an der Arbeit hindert. Erst deutlich später wurde das Wahrnehmen von Dingen, die nicht real sind, zu etwas Krankhaftem, Lächerlichen, wie im obigen Zitat.

Dabei finden Fachleute Visionen und Stimmenhören gar nicht so beunruhigend: 2013 legte die deutsche Wochenzeitung ZEIT dem leitenden Psychiater der Berliner Charité biografische Daten einiger Heiliger vor mit der Frage, wem er eine psychiatrische Behandlung empfehlen würde. Eine davon war Johanna von Orléans, die den Befehlen von Stimmen folgte, die nur sie selbst hören konnte. Erstaunlicherweise sah der Psychiater bei ihr keine Notwendigkeit für eine Intervention, denn sie konnte sowohl militärischen als auch kirchlichen Autoritäten gegenüber überzeugend auftreteten, setzte sich an die Spitze des französichen Heers und durchbrach die englische Belagerung von Orléans. Sie war nicht nur alltagstauglich, sondern konnte auch erfolgreich verhandeln – und Schlachten gewinnen.

Ein anderer populärer Heiliger machte dem Psychiater weitaus grössere Sorgen: Franz von Assisi lebte und forderte nicht nur radikale Armut, er verhielt sich mit den Jahren immer extremer. Er bekämpfte seine Sexualität, indem er sich nackt im Schnee wälzte und sich den Blick in das Gesicht einer Frau verbot. Vor seinem Tod magerte er auf Haut und Knochen ab, die Leitung seines eigenen Ordens musste er abgeben. Dass der Poverello sich immer weniger im Alltag zurechtfand, würde heute als Symptom einer Erkrankung gesehen, nicht aber seine visionären Erlebnisse an sich.

Wenn man Jugendliche im Vertrauen fragt, geben etwa 10% an, schon einmal Stimmen gehört zu haben. Das kommt also nicht selten vor, nur ist es dermassen schambesetzt, dass kaum ein Mensch darüber redet. Was geht unserer Gesellschaft wohl an klugen, inspirierenden Gedanken und Entschlüssen verloren, weil VisionärInnen ihre Fähigkeiten nicht entwickeln können, sondern verdrängen?

Damit will ich nicht sagen, dass solche Wahrnehmungen nicht Ausdruck von Krankheit und Leid sein können – ebenso wie weniger Spektakuläres. Um einen bekannten Witz aus dem Lockdown abzuwandeln: Wenn in diesen Zeiten Ihre Kaffeemaschine mit Ihnen spricht, ist das kein Grund, einen Psychiater aufzusuchen, solange sie Sie nicht bei der Arbeit stört. Wenn Sie allerdings vor Einsamkeit traurig darüber sind, dass Ihre Katze nicht mit Ihnen sprechen kann, dann suchen Sie sich bitte Hilfe. Vielleicht war Sacharja auch krank, aber wenn, dann nicht wegen, sondern mit seinen Visionen.

Karin Reinmüller

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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