Unsere Sozialsysteme

Gestern bei mir eingetroffen: Die Verfügung der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St.Gallen meine AHV-Rente betreffend: Minutiös auf 44 Jahre ausgerechnet erfahre ich, dass ich mit 65 Anspruch auf eine Vollrente habe und dass dies Anfang September dieses Jahres nun beginnen wird. Staunend sitze ich vor dieser exakten Aufrechnung der Jahre 1976 bis 2019 und lasse mir mein Leben durch den Kopf gehen: Die Studentenjahre mit den obligatorischen Minimaleinzahlungen (das waren ja noch Klebemarken!), dann der Berufsweg, der sich anhand der steigenden Zahlen gut verfolgen lässt, die Inflation der 80er und 90er Jahre, die Stagnation ab 2000. Ja sogar 1491 Franken Einzahlungen aus «Jugendjahren» kann ich zuordnen, ich arbeitete damals in den Sommerferien als Pöstler und rollte mein Wägeli bei Hitze und Gewitter durch die St.Galler Strassen, musste peinlicherweise auch eingeschriebene Zahlungs- und Betreibungsformulare abliefern (da steht man als 17jähriger recht verängstigt vor einem gestandenen Erwachsenen) und hatte Angst, irgend einen dummen Fehler zu begehen. Ich erinnere mich an Details: Etwa dass ich im Keller des Hauses Dietlistrasse 41 jeweils den Nachschubsack fand und neu laden musste. Wer hätte gedacht, dass ich später in dem Haus auf Taufbesuch gehen würde!

Was mir nun auffällt: Wie sozial unsere Schweiz doch ist, wie gut ausgebaut unsere Sozialsysteme sind. Wenn ich nämlich auch die AHV-Beiträge der Arbeitgeber abziehe, rechne ich aus, dass ich 129 Jahre alt werden müsste, um nur die von mir als Arbeitnehmer eingezahlten Beträge wieder voll ausbezahlt zu bekommen. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 82 Jahren habe ich also über 40 Jahre AHV an schwächer gestellte Mitglieder der Gesellschaft geleistet.

Vor dem Hintergrund als Mitglied des Stiftungsrates einer Pensionskasse möchte ich mich darum ausnahmsweise laut in einige laufende politische Diskussionen einmischen. Es darf angesichts der von mir aufgezeigten Mathematik einfach keine weitere systemwidrige Entscheide geben. Ergo:

  1. Es ist weiterhin strikt zu unterscheiden zwischen der ersten Säule als der Säule des sozialen Ausgleichs und den Säulen zwei und drei als Säulen des eigenen erworbenen, verwalteten und allenfalls vermehrten Kapitals für die Altersvorsorge. Versuche, in die Säule zwei Umlagerungsmechanismen einzubauen, widersprechen der Logik der ersten Säule und – noch gravierender – einem liberalen aufgeklärten Menschenbild und sind zu unterlassen.

  2. Noch mehr ist in der zweiten Säule zu verhindern, dass es aufgrund zu hoher vorgegebener Umrechnungssätze oder der Verwendung von zu optimistischen Annahmen, die Lebenserwartung betreffend, zu Umlagerungen zwischen den Generationen kommt. Solche Umlagerungen sind ja nicht einmal mehr sozialer Ausgleich, sondern zufällig und darum ungerecht.
    Daraus folgert: Deshalb darf die Festlegung des Umwandlungssatzes nicht der Abstimmungs-Demokratie ausgeliefert werden, sondern sie soll rein aufgrund von Renten-Mathematik durch neutrale Experten erfolgen.

  3. Aus 1) und 2) folgert nun, dass, wenn der Staat erkennen muss, dass die drei Säulen insgesamt einer grösseren gesellschaftlichen Gruppe im Alter nicht mehr zum anständigen Leben reichen, die Beiträge der ersten Säule (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge) und damit die Grundrente erhöht werden müssten. Auf Ausgleichsleistungen sozialer Art wie der Ergänzungsleistung bauen zu müssen, degradiert den Menschen zum vom Staat abhängigen Bedürftigen. Wieder stösst sich das sowohl mit dem liberalen wie dem christlichen Menschenbld.

Heinz Angehrn

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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