Gedanken auf der Alp

Das ist der Ort, die Zeit und die Gelegenheit zur Reflexion. Im technisch eingerichteten Haus im Tal unten warten zuviel Infos via TV, Teletext und Compi. Hier oben fernab von all dem, zudem mit der Abmachung verbunden, nur zweimal pro Tag auf das stummgeschaltete Blödgerät zu spähen, kann ich sogar einigermassen verstehen, was uns allen zurzeit «geschieht».

  1. Da ist einmal die «erzwungene Entschleunigung». Wie viel haben gerade wir Kirchenleute in den vergangenen Jahrzehnten von der Notwendigkeit gesprochen und philosophiert, dass unsere immer technisch schneller werdende Welt der Entschleunigung bedarf. Wie haben wir mit gewissem Neid auf die kleine Gruppe Menschen geschaut, die sich angesichts dieser Herausforderung ernsthaft mit Zen und/oder den grossen ignatianischen Exerzitien beschäftigten oder sich auf den ganzen Jakobsweg en bloc begaben. Doch immer wieder war dies mit dem Gedanken verbunden, dass dies eben «nichts für uns», nichts für den/die normalen Alltagsbürger/in (den/die normale/n Alltagssseelsorger/in), sei, dass wir kleine spirituelle Brötchen zu backen hatten, sprich Exerzitien im Alltag, Zen en miniature oder den Jakobsweg aufgestückelt in viele kurze Etappen. Und nun zwingt uns ein Virus eine gesamtgesellschaftliche Entschleunigung auf, werden wir als Einzelpersonen, als Paare, als Familien auf uns zurückgeworfen. Man erlaube mir die Bosheit zu formulieren, dass das Leben genug Geduld mit der Menschheit hatte, selber zu begreifen, welchen Irrweg sie da eingeschlagen hat und nun mangels Einsicht eben zur biologischen Bremse griff. Dass die auch Menschenleben kostet, ist in der Logik der Evolution inbegriffen.

  2. Da ist zum andren der Abschied von der «totalen Globalisierung». Wir Menschen des Westens (ohne zu beachten, wie viele Opfer dieser Lebensstil im Süden und bei Mutter Natur, Fauna und Flora, forderte) waren doch begeistert, dass wir immer, zu jeder Zeit, an jedem Ort, wenn nur gerade genügend Geld zur Verfügung stand, konsumieren, reisen, fliegen, jetten, «kreuzfahren», festen, «heliskiien» etc. etc. konnten. Wir Vertreter der Generation jenseits der Fünfzig waren doch auch irgendwie überzeugt, dass erst nach unserem Ableben die jetzt junge Generation die Folgen und Sünden des ökologischen Raubbaus, den wir da betreiben, ausbaden und ertragen müssen. «Après nous le déluge» – nicht wahr? Und so zogen wir Generationen junger, konsumsüchtiger, gedankenloser und gnadenlos individualistischer Menschen heran, die am liebsten en masse soffen, lärmten und krawallten. Und wie in jüngster Zeit eine Minderheit in der Nachfolge von Greta zur Einsicht kam, da wurde sie von uns verspottet oder missbilligt. Und nun sind wir, die Alten und die Jungen, mal gründlich auf die Nase gefallen. Kein Open-Air, keine Luxus-Kreuzfahrten, keine Champions League, keine Street Parade. Ich danke Covid 19 von ganzem Herzen.

Heinz Angehrn

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.blogs-kath.ch/gedanken-auf-der-alp/