Zeitenwende im Ticino

Was passierte denn hier genau? Die eidgenössischen Wahlen 2019 haben hier im Ticino, den ich als meinen Ruhesitz-Kanton historisch und politisch besser zu verstehen versuche, nicht viele Steine aufeinander gelassen. Rein formal ist zunächst folgendes geschehen: In der achtköpfigen Delegation im Nationalrat haben die Grünen einen (Frauen)Sitz auf Kosten der Lega (ein Frauen-Verlust) gewonnen, sonst ist alles beim Alten geblieben (2 FDP, 2 CVP, 1 LEGA, 1 SVP, 1 SP, 1 Grüne), doch der Verlust hätte ebenso die CVP treffen können. Im ersten Wahlgang zum Ständerat wurde niemand gewählt, im zweiten verloren sowohl FDP wie CVP (die um Haaresbreite, das Glück von vor Wochen wiederholte sich nicht) ihre Sitze an SVP und SP.

Politische Kommentatoren hier unten sprechen von Zeitenwende, Erdbeben oder auch Zäsur. Warum? Da muss man folgendes wissen:

a) Der Tessin gehört zu den Schweizer Kantonen, in denen sich CVP und FDP als die beiden bürgerlich tragenden Parteien (die eine klerikal, die andere antiklerikal als Folge des Kulturkampfes) während über 100 Jahren innig bekämpften. Die Gräben waren so tief, dass der Wechsel eines Familienmitgliedes zur anderen Seite fast unmöglich war, weil es zum Ausschluss aus dem Clan geführt hätte. Und dass jedes noch so kleine Dorf eine FDP- und eine CVP-Beiz haben musste, und man nie über die Schwelle der anderen trat, war schon den Erstklässern klar.

b) Linke und Gewerkschaften umgekehrt waren während auch fast 100 Jahren die Aussenseiter am Rande, aber innerlich ständig zerstritten (Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten). Mit dem Aufkommen der Lega dei Ticinesi (parallel zur Entwicklung der SVP in der Deutschschweiz) wechselte ein Teil der proletarischen wie der ländlich-kleinbürgerlichen Klasse zu ihr über. Allerdings war die Lega deutlich sozialer als die SVP eingestellt (ähnlich der CSU in Bayern). In den letzten Jahren, seit die Lega zwei Regierungsräte stellt (und die Führungskräfte Bignasca und Maspoli fehlen), schwächelt sie, und statt dessen steigen die Prozentzahlen der der «reinen Lehre» verpflichteten SVP (natürlich auch aufgrund der zugewanderten Deutschschweizer Senioren…). Die Tessiner Grünen ihrerseits sind deutlich konservativer als die Gesamtpartei eingestellt.

c) Im Vorfeld der 2019er-Wahl geschah Historisches: Aus Angst vor Sitzverlusten vereinbarten CVP und FDP erstmals eine Listenverbindung, dito Lega und SVP wie schon bisher. Als Reaktion bildeten auch alle links-grünen Gruppen erstmals eine einzige Liste. Die jetzigen Resultate sind die Folge.

Es wird gefolgert, dass die klassisch bürgerlichen Wähler die Listenverbindung nicht goutiert haben. Was so lange nicht zusammen passte, konnte doch nicht so schnell zusammen finden. Der Präsident der Tessiner CVP unkt sogar schon vom Verlust der Monopolstellung.
Ich erlaube mir als Greenhorn noch zwei Anmerkungen: Es könnte sein, dass die SVP, wie sie in der Deutschschweiz schon alle rechten und ultrarechten Parteien (Autopartei, SD) «geschluckt» hat, auch mittelfristig die Lega absorbieren könnte. Und die Abwahl von Herrn Lombardi (zu der wir 2 der 45 Stimmen beigetragen haben…) war sicher auch Reaktion auf einen unanständig millionenschweren Wahlkampf am Rande von Mafia-Allüren. Hochmut kommt vor dem Fall.


Heinz Angehrn

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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